: Im „Sputnik“ über Spandau-Hbf nach Nauen
■ Verkehrsverwaltung: Wiederverknüpfung des gesamtstädtischen S-Bahn-Netzes verschlingt mit Sicherheit Milliarden Eventuell müssen Fahrgäste nach der Grenzkontrolle in Ost-Züge umsteigen / Bausenator will den Ring jetzt eher flottmachen
Der verantwortliche Planer in der Verkehrsverwaltung, Christian Lotze, sah vor seinem geistigen Auge schon die Naturschützer auf den Barrikaden. So sei beispielsweise bei einer Verlängerung der S-Bahn-Vorortstrecke von Lichtenrade nach Mahlow im Osten dort, wo die Gleise bislang an der Mauer endeten, auf dem Bahndamm erst einmal „ein halber Wald“ niederzulegen. Das wäre jedoch noch eine Kleinigkeit.
Tatsächlich wirft die seit den 9. November aufgetauchte Perspektive einer Wiederverknüpfung des mit dem Mauerbau getrennten Gesamtberliner S-Bahn-Netzes riesige Probleme finanzieller, bautechnischer, politischer und verkehrstechnischer Art auf. Einst - im August 1961 dauerte es zwar nur Stunden, den Ring und die „Einladungen der Stadt an die Städte“ (Uwe Johnson), die Vorortlinien nach Potsdam, Falkensee und Nauen, Velten, Oranienburg, Bernau, Strausberg, Erkner, Königswusterhausen, Teltow, Mahlow und Zossen zu zerschneiden: Schienen wurden einfach demontiert oder auseinandergebogen, Eisenpfähle eingerammt. Und schon drei Monate später hatte die DDR bei sich 24 Kilometer S-Bahn-Trassen neugelegt. Wollte man jetzt etwa die unterbrochenen Verbindungen nach Potsdam oder Nauen reaktivieren, käme das nach Überzeugung der Verkehrsverwaltung einem Totalneubau gleich. Stromschienen, Signalsysteme, Fernmeldeanlagen und zum Teil sogar die Gleise fehlen.
An der Grenze
umsteigen oder nur
FahrerInnenwechsel?
Insgesamt erfordert die Verknüpfung aller abgetrennten west -östlichen S-Bahn-Adern „mit Sicherheit eine Milliardeninvestition“, schätzt Lotze. Indes ist noch ungewiß, ob die Kohl-Regierung, die in die Tasche greifen müßte, sich zu einem solchen finanziellen Berlin-Opfer entschließen wird. Dabei halten die Experten Senator Wagners es mittelfristig für ausgeschlossen, daß Stadt- oder Ringbahnzüge wieder wie früher ohne Halt von Ost nach West und vice versa rattern können. Daß die DDR in absehbarer Zeit auf Kontrollen verzichtet, sei nicht vorstellbar, heißt es. Wahrscheinlich müßten Fahrgäste an den Grenzen zu Ost -Berlin und der DDR sogar in Ost-Züge umsteigen. Als denkbar wird allerdings auch bezeichnet, daß wie früher bei den Straßenbahnen an den Grenzen nur die FahrerInnen ausgewechselt werden.
Von Friedrichshain
nach Wilmersdorf
Erstes Traum- und Wunschziel ist es, zunächst den Südring zwischen den Bahnhöfen Sonnenallee und Treptower Park zu schließen. Das gewährleiste schon mal den massenhaften Weitertransport von Ost-Besuchern aus Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Lichtenberg, die in die südlichen Westberliner Bezirke wollen. Weiter favorisiert die Verkehrsverwaltung die Eröffnung des auf Ostberliner Gebiet gelegenen Bahnhofs Bornholmer Straße und dessen Ausbau zum Umsteigepunkt vom östlichen ins westliche S-Bahn-Netz. Dazu müßte freilich auf östlicher Seite ein neuer Parallelbahnsteig errichtet werden. Im Gegensatz zur Bauverwaltung betrachten die Planer der Verkehrsverwaltung eine sofortige Anbindung der Bahnhöfe Gesundbrunnen und Schönhauser Allee als zu aufwendig. Wunsch beider Verwaltungen: die Reaktivierung der Strecken über Wannsee und Griebnitzsee nach Potsdam und über Spandau nach Nauen/Wustermark. Hier wird momentan mit Ost-Berlin über eine billige Zwischenlösung verhandelt. Zunächst könnte die Reichsbahn auf den vorhandenen Fernbahngleisen ihre alten Doppelstockwagen, „Sputniks“ im Ostberliner Volksmund genannt, von Dieseltriebwagen ziehen lassen, so die Vorstellung.
Von Oranienburg
nach Tegel
Prinzipiell müssen sich die Senatsplaner damit auseinandersetzen, daß der elektrisch betriebene S-Bahn -Verkehr auf der anderen Seite nach dem Mauerbau weitgehend umstrukturiert wurde. Abgesehen von dem Stadtbahnabschnitt Ostkreuz-Friedrichstraße fahren die Züge seitdem in West-Ost - und in nord-südlicher Richtung. So wird der S-Bahn-Verkehr aus Oranienburg über eine eingleisige Verbindungskurve direkt auf den Berliner Nordring geleitet, weshalb eine Anbindung der Nordbahn von Frohnau mit dem Außenringbahnhof Hohen-Neundorf erhebliche Umbauten erforderte. Auch vom Bahnhof Sonnenallee aus könnten die Züge ohne bauliche Kunstgriffe nicht mehr in derselben Gleisebene nach Treptow eingefädelt werden. Anlaß für die Bauverwaltung, mit einer alternativen Verbindung Neukölln-Köllnische Heide -Baumschulenweg zu liebäugeln. Diese relativ schnell zu realisierende Lösung böte den Vorteil, über das Grünauer Kreuz im Süden der Stadt einen direkten Anschluß an die S -Bahn-Neubaustrecke vom Flughafen Schönefeld zu haben. Auch vor allen anderen Entscheidungen müsse Ost-Berlin erst bislang fehlende Bauunterlagen zur exakten Ermittlung des Bau- und Kostenaufwandes liefern, schränkte die Bauverwaltung jedoch ein.
Nagel: Alles
verkehrt angefangen?
Unter heutigen Gesichtspunkten ist sicher der zeitliche Fahrplan für die Inbetriebnahme weiterer S-Bahn-Strecken in unserem Teil der Stadt überprüfungswürdig. Vielleicht habe man am Südring in Halensee mit den Bauarbeiten doch „an der verkehrten Seite angefangen“, sinnierte Bausenator Nagel jüngst im SFB. Seine Konsequenz: Im Neuköllner Südring -Abschnitt wird es einen zusätzlichen „neuen Bauschwerpunkt“ geben, wie der zuständige Referatsleiter Nikolaus Kapp erläuterte. Danach bekommt auch der Nordring eine „zusätzliche Priorität“.
Informationen des verkehrspolitischen Sprechers der AL, Cramer, zufolge will der Bausenator allerdings zum Ausgleich die für Mitte 1993 angekündigte Eröffnung der Strecke nach Lichterfelde Süd auf später verschieben. Cramer: „Ich sehe nicht ein, warum das nötig ist. Wenn nun nach dem von mir verlangten vorläufigen 'Aus‘ für die Verlängerung der U -Bahnlinie 9 Richtung Lankwitz auch noch die Instandsetzung der Lichterfelder S-Bahn-Strecke gestoppt wird, sind die Steglitzer sauer.“ Gegenüber der taz forderte der AL -Abgeordnete erneut eine beschleunigte Inbetriebnahme des Südrings, um danach erst mit dem Nordring zu beginnen. Nach Auffassung Cramers wäre der Südring schon zwei Jahre eher flott, wenn die Bauverwaltung bereit wäre, den Umsteigebahnhof Papestraße unter Betrieb umzubauen.
Thomas Knauf
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