: Entweder - oder?
■ Gemeinsame Reforminitiative oder Kohl'sches Rollback
Revolutionen kommen stets zu früh, und immer werden diejenigen, die für sie gearbeitet haben, am meisten davon überrascht. Es gibt keine Schonfrist und keinen Schonbezirk, wo abseits der politischen Kräfteverhältnisse an einem alternativen gesellschaftlichen Modell experimentiert werden kann. Der Aufruf „Für unser Land“, veröffentlicht von einer Reihe linker DDR-Intellektueller, beschwört die Entwicklung der DDR zu einer solidarischen Gesellschaft. Aber diese Vorstellungen eines behüteten Weges, einer pädagogischen Provinz, werden der Wirklichkeit nicht standhalten. Schroffe soziale Differenzierung und ein heftiger Kampf um den Platz an der Sonne werden die Folge der Wirtschaftsreform sein, deren Notwendigkeit von den Autoren des Aufrufs selbst bejaht wird. Was vermag in einer Situation, wo es materielle Bedürfnisse sind, die die Menschen „Deutschland einig Vaterland“ skandieren lassen, der Appell an die ursprünglichen Ideale aus der Gründerzeit der DDR?
Unsere Freunde in der DDR argumentieren, sie bräuchten Raum und Zeit, sich zu organisieren, ihre Vorstellungen aufzuarbeiten und die Menschen in der DDR von ihnen zu überzeugen. Aber von Tag zu Tag weitet sich die Kluft zwischen den Aktivisten des Demokratischen Sozialismus und einer Bevölkerung, die in ihnen bis jetzt eine authentische Interessenvertretung sah. Das Zögern, ja die Abstinenz vor der Beschäftigung mit der nationalen Frage, droht für die demokratische Bewegung in der DDR fatale Folgen zu zeitigen. Glauben denn die Unterzeichner des Appells wirklich, eine Bilanz des Sozialismus auf deutschem Boden und eine Diskussion über seine mögliche Regenerierung seien aus dem Blickwinkel der DDR allein heraus möglich?
Es müßten die Linken, die grün-alternativen Kräfte in beiden deutschen Staaten sein, die jetzt die Möglichkeit gemeinsamer gesellschaftlicher Beratung und - ihr folgend gemeinsamer Aktion ergreifen. Was spricht etwa gegen eine Vernetzung der ökologischen Initiativen, gegen Betriebsrätekonferenzen, gegen gemeinsame kommunale Projekte, gegen vereinte Zeitschriften- und Zeitungsprojekte? Nur die Angst, vereinnahmt zu werden (dagegen ließen sich Vorkehrungen treffen) oder doch die Auffassung, man sei im Grunde der kapitalistischen BRD voraus, müsse nur ungehindert sein Potential entfalten?
Statt ständig der Befürchtung Ausdruck zu geben, daß die DDR vom BRD-Wolf verschlungen wird, wäre es für die Linken in beiden deutschen Staaten an der Zeit, die Nation, wie es Günter Grass formuliert hat, „diesmal von links her zu definieren“. In seiner denkwürdigen Diskussion mit Stefan Heym von 1984 brachte er die Idee der Konföderation als einer politischen Form ins Gespräch, die die Gleichberechtigung der Vertragspartner wahrt, aber offen ist für gemeinsame Entwicklungsmöglichkeiten. Würde die Konföderationsidee von der Linken aufgegriffen und durch gesellschaftliche Initiativen untermauert, so würde sich vielleicht zum ersten Mal in Deutschland - eine Mehrheit für eine konsequente Friedenspolitik und für ein demokratisch, ökologisch und sozial orientiertes Reformprojekt erreichen lassen. Ansonsten rollt der Kohl-band-waggon.
Christian Semler
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