Aufbruch der Frauen gegen die „mittelmäßigen Männer“

Unabhängiger Frauenverband in der DDR gegründet / Über 1.000 Frauen feierten in der Ostberliner Volksbühne den Beginn einer Frauenbewegung / Zwei Sprecherinnen sollen „Sofortforderungen“ am „runden Tisch“ vertreten / Wirtschaftsreform darf nicht zu Lasten der Frauen gehen / Quotierung für alle Bereiche  ■  Von Helga Lukoschat

Plötzlich ist sie da: eine Frauenbewegung in der DDR selbstbewußt und aufmüpfig, und ihre Vielfalt macht Staunen. Es gibt die „Lila Offensive“ und die „Sozialistische Initiative“, die Arbeitsgemeinschaft Frauen in der SED und die Frauen der Advents-Gemeinde, es gibt den KaDeWe, den „Klub der Widerspenstigen“ in Berlin, den Frauenclub Kottbus und EFA, den „Ersten Feministischen Aufbruch“ beim Neuen Forum am Prenzlauer Berg. Und für all diese neuen Gruppen gibt es seit Sonntag einen unabhängigen Dachverband, mit dem die Frauen ganz schnell Politik machen wollen.

Auf der Gründungsversammlung mit über 1.000 Teilnehmerinnen in der Ostberliner Volksbühne wurden auch gleich zwei Sprecherinnen per Akklamation bestimmt. Denn die Zeit drängt: An Modrows „rundem Tisch“, am 7.Dezember, wollen die Frauen unbedingt vertreten sein. „Wenn wir jetzt nicht aufpassen und in der Politik mitmischen, dann geht es uns wie den Frauen in der UdSSR und Polen“, warnte eine Initiatorin, „dann geht die Perestroika an uns vorbei.“ Das soll der Dachverband verhindern, der die Interessen der Frauen künftig auch parlamentarisch vertreten soll.

Der lautstark formulierte Überdruß an der SED wie überhaupt an der Herrschaft der „mittelmäßigen Männer“ mündete einmütig in den Ruf nach einer „Quotierung in allen Bereichen von Politik und Wirtschaft“ (Lila Offensive). Nur eine einzige Teilnehmerin wollte den Sinn einer Quotierung nicht einsehen und verlangte das „Leistungsprinzip auch für Frauen“.

Frauen an die Macht, um Politik für Frauen durchzusetzen: Immer wieder wurde die Sorge laut, daß die Wirtschaftsreform zu Lasten der Frauen gehen könnte. „Ich sehe die Gefahr, daß Frauen aus den verschiedenen Bereichen herausgelöst werden, ohne daß es Ansätze für Umschulung und Weiterbildung gibt“, warnte Ina Merkel, Kulturwissenschaftlerin an der Humboldt -Universität, die sich für ein „Sofortprogramm für die werktätigen Frauen“ einsetzte. Ganz schnell auf den Verhandlungstisch gehört nach den Vorstellungen der neugegründeten Organisation deshalb ein Frauenausschuß in der Volkskammer mit einem Einspruchsrecht. Er soll u.a. alle anstehenden Entscheidungen über Preise und Subventionsabbau auf ihre soziale Verträglichkeit überprüfen. Vor allem Frauen mit geringem Einkommen dürften nicht zu den Verliererinnen der Wirtschaftsreform werden (s. Dokumentation S.5). Doch es ging nicht nur um tagespolitische Forderungen. In Ina Merkels „Manifest für eine autonome Frauenbewegung“ gab es grundsätzliche Fragen: Skizziert wurde eine ökologisch orientierte Frauenpolitik in einem „modernen Sozialismus“, die in der „westlichen Konsum und Leistungsgesellschaft“ kein Vorbild sieht. Von der „Wiedervereinigung“ wollte das Manifest nichts wissen: „Wollen wir uns etwa mit den Herren in Bonn wiedervereinigen, die Diktatur des Politbüros durch die Diktatur des Bundeskanzleramtes ersetzen? Wiedervereinigung hieße in der Frauenfrage drei Schritte zurück.“ Viele soziale Errungenschaften müßten aufgegeben oder neu erkämpft werden.

Für den Umbau der Wirtschaft hatte das Manifest folgende Perspektive: Da Frauen am meisten unter der „Mangelwirtschaft“ gelitten hätten, dürfte eine „ökologische Produktion“ nicht erneut vom „Mangel diktiert“ werden. Zusammengehen könne „Bedürfnisvielfalt“ und Ökologie nur mit „alternativen Lebensformen“: „Braucht jede Frau ein Auto, oder wollen wir ein vernünftiges Verkehrssystem?“ Diese Frage quittierten die Frauen mit großem Applaus. Besonders die Passagen über die Verantwortung gegenüber den Kindern beindruckten: Wenn von den „abgehetzten, überreizten Eltern“ die Rede war, von Umweltverschmutzung und miesen Nahrungsmitteln, von dem ständigen Mangel an Zeit und der alltäglichen Lieblosigkeit, war es im Saal atemlos still. Ina Merkel wurde so auch zur Sprecherin des Verbandes gewählt, zusammen mit der Schauspielerin Walfriede Schmitt. Sie hatte nicht nur das Treffen in der Volksbühne mitorganisiert, sondern auch das Manifest auf so beeindruckende Art verlesen und die Veranstaltung so souverän geleitet, daß die Frauen begeistert waren: „Walfriede, du läßt dich am runden Tisch nicht unterbuttern.“ So fielen die Entscheidungen.

Die Differenzen der Frauen deuteten sich in der Aufbruchsstimmung nur an; zu groß war das Bedürfnis, sich eine gemeinsame Stimme zu geben - über alle Unterschiede hinweg. In den nächsten drei Monaten, so der Zeitplan für die Verbandsgründung, werden die Frauen noch genügend Zeit haben, sich über Statut und Programm zu streiten. Ein Koordinierungsausschuß wird sich um die zähe Kleinarbeit kümmern. Nur eine einzige Frauengruppe, die „Freie Frauenassoziation“, fand den Verband zu bürokratisch. Ganz libertär forderten sie: „Jede macht, was sie will, und keine macht, was sie soll.“ Auch sie bekamen freundlichen Applaus.