Der allerletzte Anlauf der SED

■ Der „Arbeitsausschuß“ will auf dem Parteitag die sozialdemokratischen Traditionen wiederbeleben

Nichts ist mehr so, wie es war. Das Positionspapier dieses SED-Parteitags stammt aus keinem Politbüro und keinem ZK -Apparat. Im einzig funktionierenden „Arbeitsausschuß“ haben sich die Befürworter einer praktischen Neugründung der Partei durchgesetzt.

Dieser außerordentliche Parteitag ist kein Parteitag der SED mehr, so wie sie über 43 Jahre als stalinistische und paternalistische Partei existierte. Die Wahl der Delegierten, früher rituelle Bestätigung vom Apparat ernannter Claqueure, wurde diesmal - so weit man darüber gehört hat - tatsächlich von der Parteibasis bestimmt. Der Apparat ist so desorientiert und desorganisiert, daß ihm zu folgen schlichtweg nicht möglich war.

Die Grundzüge eines neuen Programms, vom „Arbeitsausschuß“ vorsichtig als „Diskussionsstandpunkt“ (s. Dokumentation unten) bezeichnet, lesen sich wie ein Text aus linkssozialistischer oder linkssozialdemokratischer Feder. Auf seine Formulierung hat offenkundig die SED-Reformer -Gruppe von der Humboldt-Universität um Dieter Segert, Andre Brie und Rainer Landt maßgeblichen Einfluß genommen, obwohl auch sie nicht alle ihre Vorstellungen durchbringen konnten. So fehlt etwa ihre Forderung nach einer Öffnung der Partei gegenüber den „neuen sozialen, ökologischen und kulturellen Bewegungen“.

Ziel des „Arbeitsausschusses“ ist offenbar eine Partei, die vor allem die jahrzehntelang unterdrückten sozialdemokratischen Traditionen wiederbeleben will. Es ist die Stimme der internen SED-Opposition, die da zu hören ist. Sie hatte vor allem in den 50er Jahren wiederholt den Versuch unternommen, mit dem Stalinismus zu brechen - mehr oder weniger radikal. Zu denken ist dabei vor allem an die „Plattform“ der Gruppe um Wolfgang Harich von 1956.

Diese Richtung wird auf dem Parteitag versuchen, die verschiedenen Tendenzen in der Partei zu integrieren - daher auch ihr theoretischer Eklektizismus, der von Kautsky bis Lenin, von Luxemburg bis Bernstein reicht. Ob es allerdings diese Differenzen sind, die das Leben der künftigen Partei bestimmen werden, ist zweifelhaft. Die Konfliktlinien werden wohl eher zwischen denen verlaufen, die sich - wie das eine SEDlerin auf einer der Kreisdelegiertenkonferenzen am letzten Wochenende ausdrückte - „einen sauberen, ordentlichen Sozialismus“ wünschen und auf ein Ende der orientierungslosen, der führungslosen Zeit hoffen, und denjenigen, die das Risiko eines radikaldemokratischen Neubeginns konsequent fortsetzen wollen.

Eine Rolle spielen wird auch die Auseinandersetzung zwischen den intellektuellen Reformern und der Arbeiterschaft in der Partei. Die noch sehr vorsichtig formulierten Vorstellungen des „Arbeitsausschusses“ zur Wirtschaftsreform laufen auf den Abbau von Subventionen und damit auf Preissteigerungen heraus, auf die Beseitigung von Freiräumen der Leistungszurückhaltung und ein Ende der fast absoluten Arbeitsplatzsicherheit.

Davon, wer die Kosten der Reform zu tragen hat, ist in dem Papier des Arbeitsausschusses noch nicht einmal die Rede. Dazu kommt der Konflikt zwischen der Hauptstadt und dem Rest der DDR. Er war schon für den revolutionären Aufbruch im Oktober von entscheidender Bedeutung. Und dies wird der erste Parteitag der SED sein, auf dem die „Provinz“ überhaupt eine eigene Stimme haben wird.

Schließlich muß über die weitere staatliche Existenz der DDR gesprochen werden. Der Arbeitsausschuß hat sein Ja zu „konföderativen Strukturen im Rahmen einer gesamteuropäischen Annäherung“, kombiniert mit der Forderung nach dauerhafter Bewahrung der Zweistaatlichkeit gegeben. Interessant wird in diesem Zusammenhang sein, ob die Stimmungswelle für eine Vereinigung mit der BRD, die etwa in der sächsischen Bevölkerung in den letzten Wochen immer stärker geworden ist, inzwischen auch schon die SED erreicht hat. Eine solche Perspektive würde die Diskussion dramatisch verändern: Es ginge dann nicht mehr um die Suche nach einem dritten Weg, sondern um eine Positionsbestimmung der SED -Nachfolgeorganisation innerhalb der deutschen Linken.

Walter Süß