: Das ganze Deutschland muß es sein
■ Auf ihrem Kleinen Parteitag in Berlin verabschiedete die CDU ihre Deutschland-Erklärung
Die CDU will sich nicht mehr in die nationale Suppe spucken lassen. Trotz der Kritik aus den Hauptstädten der westlichen Verbündeten an des Kanzlers Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Wiedervereinigung möchten die Christdemokraten auf ihr offenes Bekenntnis zur deutschen Einheit nicht länger verzichten.
„Ich will die Wiedervereinigung.“ Die Stimme ist kurz vor dem Wegbrechen, fast meint man ein Schluchzen durch die Lautsprecheranlage des Interconti zu hören, als der frühere „Herz-Jesu-Sozialist“ Norbert Blüm seiner Bekennerwut freien Lauf läßt: „Nie in meinem Leben habe ich mich mit meinem Volk so in Übereinstimmung gefühlt wie jetzt. Ich bin richtig stolz, Deutscher zu sein. Ich bin Stolz auf unsere Landsleute, und ich bin stolz auf die Bundesbürger. Deshalb sage ich hier ohne wenn und aber - ich will wiedervereinigt werden.“ Im pathetischen Überschwang einmal dabei, wollte Blüm auch seinen Kanzler nicht zu kurz kommen lassen. „Ich will mich an dieser Stelle auch bedanken, daß Sie, Herr Bundeskanzler, mit soviel Standfestigkeit das Verlangen nach deutscher Einheit in Europa eingebracht haben.“ Denn so selbstverständlich, wie ein Franzose, Spanier oder Engländer stolz ist auf sein Land, sehe ich keinen Grund mehr, nicht stolz zu sein auf mein Land.“ Der Ausbruch des Norbert Blüm, der an diesem „historischen Datum aus seinem Herzen nicht länger eine Mördergrube machen“ wollte, war so etwas wie die Schaumkrone der nationalen Welle, die gestern über den sogenannten „Kleinen Parteitag“ der West-CDU in Berlin hinwegging. Die Reihen fest geschlossen angesichts der Krittelei an Kohls Zehn-Punkte-Plan im Ausland, gibt man sich fest entschlossen, niemanden mehr in die nationale Suppe spucken zu lassen.
Auch Niedersachsens Albrecht möchte mit Bekenntnissen nicht länger zurückhalten. Insgeheim sei er überzeugt gewesen, zu seinen Lebzeiten die deutsche Einheit nicht mehr in greifbare Nähe rücken zu sehen. Daß es nun doch noch soweit gekommen sei, werde er seinen Landsleuten in der DDR nie vergessen. Auch er, der angeblich vor dem Bremer CDU -Parteitag noch als zaudernder Königsmörder gehandelt worden sein soll, macht nun seinen tiefen Kotau vor Kohl. Der Zehn -Punkte-Plan sei genau das, was Deutschland nun brauche. „Endlich hat das deutsche Volk wieder eine Aufgabe.“
Was die CDU von den Einwänden ihrer westlichen Partner wirklich hält, sprach Albrecht am deutlichsten aus. „Es gibt viele, die nun beleidigt tun, weil sie vorher nicht gefragt worden sind. Ich sage Ihnen, was passiert wäre, wenn der Bundeskanzler tatsächlich vorher gefragt hätte: der Zehn -Punkte-Plan, den wir so dringend brauchen, wäre erst gar nicht zustande kommen. Jetzt diskutiert die ganze Welt darüber.“ So, scheint Albrecht zu meinen, zeigt man diesen Bedenkenträgern in Paris, Washington, Rom und Moskau, was eine Harke ist. Vor allem, daß es Kohl geschafft hat, in Straßburg die Formel von der deutschen „Einheit in freier Selbstbestimmung“ ins Kommunique zu drücken, läßt Albrecht die Brust schwellen. Er habe schließlich 15 Jahre in Brüssel gearbeitet und kenne diese Truppe. „Daß Sie das geschafft haben, ist schon eine Leistung.“
Angesichts dieser ungehemmten Ausbrüche fürs Vaterland erschienen auch die europäischen Bekenntnisse, die Kohl in seiner Eingangsrede immer wieder eingeflochten hatte, kaum mehr als rhetorische Floskeln. Trotzdem erschien Kohl plötzlich wie ein Realo unter lauter deutschen Fundamentalisten. Er wolle, wie in seinem Zeh-Punkte-Plan angegeben, zwar die Föderation, eine bundesstaatliche Ordnung also. Aber dazu seien noch lange Zeiträume notwendig.
Ausdrücklich distanzierte sich Kohl dagegen von der Vorstellung, als ersten Zwischenschritt eine Konföderation bilden zu wollen. Dieser Zusammenschluß zweier Staaten würde aufgrund der unterschiedlichen Bündniszugehörigkeit der beiden deutschen Staaten Fragen aufwerfen, die nicht zu beantworten sind. Dann lieber, so Kohl implizit, etwas länger warten und die DDR, wie von den USA gewünscht, gleich mit in die Nato holen. In der Zwischenzeit könnten Stufen institutioneller Zusammenarbeit entstehen und ausgeweitet werden. „Wir brauchen endlich wieder eine mitteleuropäische Verkehrspolitik, damit der Traum von der Schnellbahnverbindung Paris-Berlin-Moskau bald in Erfüllung geht. Kohl verspricht, es sei nicht seine Absicht, wieder ein „übermächtiges Deutschland in der Mitte Europas zu begründen“. Niemand solle vor den Deutschen, die wie er aus der Geschichte gelernt hätten, noch einmal Angst haben. Deutsche Alleingänge würde es deshalb nicht geben. Zu einer expliziten Aussage über die polnische Westgrenze konnte sich der Kanzler, mitten im deutschen Begeisterungstaumel, dagegen erneut nicht durchringen.
Dieser Part blieb der CDU (Ost) vorbehalten. Erstmals auf einem CDU-Parteitag (West) sprachen Mitglieder der CDU (Ost). Und wie sie sprachen. Da glänzten die Augen der Delegierten, hüpfte ihnen das Herz im Leibe. Gestern noch Blockpartei, heute schon immer heimliche Verehrer Ludwig Erhards. Der Sozialismus ist mausetot, rief ihr Oberökonom Czok ins Mikro und konnte im Beifall baden. In einer Rede, die fast zur Karikatur geriet, stellte der Sprecher der gewendeten CDU seinen Zehn-Punkte-Plan vor: erstens freie Marktwirtschaft, zweitens freie Marktwirtschaft, drittens freie Marktwirtschaft.
Angereichert waren die Erkenntnisse noch mit Empfehlungen an die Daheimgebliebenen, doch möglichst bald eine Arbeitslosenpflichtversicherung einzuführen, den Betroffenen das Streikrecht, dafür aber auch den Arbeitgebern selbstverständlich das Recht auf Aussperrungen einzuräumen. Priorität aber habe die nationale Frage. Martin Kirchner, ein Kirchenmann aus Thüringen und ebenfalls im CDU-Vorstand, nannte beim Namen, was Kohl sich noch nicht getraut hatte. Immer hätten die westlichen Siegermächte das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen betont. Jetzt, in der Stunde der Wahrheit, wollten sie einen Rückzieher machen. So geht es nicht, denn: „Wir sind ein Volk“. „Gott schütze unser deutsches Vaterland!“
Jürgen Gottschlich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen