Putsch der SED-Intellektuellen

Das neue Programm wird eher in der Opposition als in der Partei Unterstützung finden  ■ K O M M E N T A R

Am Programm jedenfalls wird es nicht liegen, wenn die SED auch in nächster Zeit nicht um Mehrheiten, sondern um ihre Existenz kämpfen muß. Was die Reformer aus der Humboldt -Universität da entworfen haben, sind Grundlinien einer aufgeklärten ökologisch-sozialistischen Politik für die 90er Jahre. Für den Entwurf eines reformierten politischen Systems geben die bürgerlich-parlamentarischen Demokratien das Vorbild, erweitert um institutionalisierte Partizipationschancen der Gesellschaft, wie sie von den neuen sozialen Bewegungen des Westens bislang eher gefordert als durchgesetzt werden konnten. Von der Verhinderung ökonomischer Machtkonzentration in einer gemischten Wirtschaft, wie sie das Programm vorsieht, träumen hierzulande die Kartellwächter, von den Formen innerbetrieblicher Mitbestimmung diejenigen SPDler, die die Kämpfe der 70er Jahre noch erinnern. Das ganze wird präsentiert von einem Vorsitzenden, der sich zwar mit seinen Wertorientierungen zum Kommunismus, mit seinem praktischen Politikverständnis aber an der Sozialdemokratie orientiert.

Seit der Veröffentlichung der Programmthesen gewinnt die von Teilen der Opposition favorisierte Arbeitsteilung - „wir liefern Glaubwürdigkeit, die SED Kompetenz“ - ihren Sinn. Denn so ziemlich alle Programmfacetten, die von der Opposition in den letzten Monaten entworfen wurden, müssen sie jetzt im 'ND‘ nachlesen. Was sie schon ahnten, daß die Zeit zu knapp wird und der reformerische Sachverstand verkehrte Welt - bei der SED konzentriert ist, wird jetzt offenbar.

Doch auch für die hiesigen Sozialdemokraten wird es schwer werden, die inhaltliche Debatte um das Programm mit markigen Sprüchen zur Erblast der SED einfach abzuschneiden. Spätestens wenn Teile der SPD in dem Entwurf eigene verschollene Optionen wiedererkennen, wird auch die Parteispitze ihre gerade erst mühsam erkämpfte Distanz zur SED überdenken müssen.

Wenn die SED mit ihrem Programm dennoch nicht in die Offensive kommt, so liegt das nicht nur am allzubegründeten Generalvorbehalt der Gesellschaft, sondern auch an der Partei selbst. Denn wie der neue Vorsitzende, so repräsentiert auch das Programm nur ein schmales Segment der SED. Derzeit kommt alles durch, was Erneuerung in Einheit zu garantieren scheint. Doch daß die 1,5 Millionen verbliebenen Genossen die Wende von der stalinistischen Hörigkeit zur demokratisch-sozialistischen Offensive mittragen, bleibt zweifelhaft. Der Putsch der SED-Intellektuellen ist geglückt, doch er könnte erfolglos bleiben.

Matthias Geis