: Die Erzählung wiederholt die Maschine
■ Michel Foucaults „Raymond Roussel“
Sechsundzwanzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung erscheint ein Hauptwerk strukturalistischer Ästhetik erstmals auf Deutsch. Michel Foucault widmete die Studie, mit der er den Begriff des „Double“ in die Literaturtheorie einführte, einem hierzulande fast unbekannten Autor.
Die Rolle Raymond Roussels (1877-1933) in der modernen Kunst ist kaum zu überschätzen. Duchamp und Robbe-Grillet, Michel Leiris und Konrad Bayer haben seine Technik des Sprachspiels adaptiert, Dali hat sie zur „paranoisch -kritischen Methode“ der Trugbilder kolportiert. Bataille behauptet, einen sternförmigen, in einer Silberschachtel eingeschlossenen Keks von ihm besessen zu haben.
Roussels Welt ist Jahrmarkt oder Zirkus, in der teilnahmslos-schlichten Sprache der Märchen geschildert, wie mit Kinderaugen gesehen, und ihr einziger Sinn scheint die Verzauberung des Lesers: ein riesiger Glaskristall, in dem Dantons von Haut und Knochen entblößter Kopf, den ein Katzenfisch elektrisiert, stumme Fragmente seiner berühmten Rhetorik ausstößt. In Tarotkarten eingeschlossene Insekten, deren unwillkürliche Bewegungen ein musikalisches Räderwerk in Gang setzen und über deren Kopf ein grüner Lichtkegel aufleuchtet, wenn sie sich einer Weise ihrer schottischen Heimat erinnern. Leichen, die durch die Kombination zweier Wundermittel angeregt, einen besonderen Moment ihres vergangenen Daseins vor Publikum immer wiederholen.
Foucault versucht, die innere Logik von Roussels Montagen solcher immaterieller Maschinen zu entschlüsseln. Als Leitfaden dient dessen letztes Werk, in dem er pusthum zu erklären vorgibt, „wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe“. Vorgibt - denn Foucault zeigt in seiner satzgenauen Lektüre, daß auch der Selbstkommentar dem „Verfahren“ gehorcht, das er nur teilweise erklärt - und so auf ein noch geheimeres Gesetz verweist.
Roussels „Verfahren“ spinnt das „Spinnennetz der Erzählung“ zwischen einem zufällig gefundenen Satz und seinem klangähnlichen Pendant. Aus demoiselle (junges Mädchen) a pretendant (vom Freier umworben) wird in dem unsichtbaren Zwischenraum, dem doppelten Boden der Worte, die eins und das andere bedeuten können: demoiselle (Handramme der Pflasterer) a reitre en dents (Haudegen aus Zähnen).
Eine „dumpfe phonetische Explosion willkürlicher Sätze“ gebiert die fliegende Ramme, die mittels einer Konstellation von Spiegeln, Chemikalien und Magneten in bestimmten vorberechneten Sonnenphasen aus einem Haufen herausgerissener Zähne ein Mosaik legt, das einen träumenden Ritter abbildet, den eine Brautwerbung das Leben kostet. Ein Wunderwerk nicht aber der Einbildungskraft, wie Foucault zeigt, sondern einer wahnsinnigen Sprachanalyse: „Sprache als winzige Klinge, die die Identität der Dinge spaltet“.
Der „tropologische Raum“, in dem Roussels Verfahren operiert, umschließt alle Stilfiguren: Metapher, Metonymie, Synekdoche usw. Raum reiner Wortverschiebungen, Traum der Sprache, den Roussel nicht schafft, sondern erkundet. Die Bilder waren vor ihm da, immer schon da, er gräbt sie aus wie einen Schatz. Satz für Satz wie „Blumen, die sich sehr dicht an ihrem Zentrum unaufhörlich ausbreiten“, entstehen aus dem ursprünglichen Paar die Bildmaschinen.
Das verschwiegene Verfahren, mit dem Roussel die Lücke zwischen Satz und Gegensatz schließt und das Muster der Texte webt, nennt Foucault „Double“. „Die Erzählung wiederholt die Maschine, die die Erzählung wiederholt.“ Alle gedoubelten Maschinen sind Abbilder des ersten „Verfahrens„; die Texte sind in einem „rechtwinkligen System von Wiederholungen“ verschlossene Erzählungen von Rissen und Differenzen, Labyrinthen und Metamorphosen, vergeblichen Geburten und aufgehaltenen Toden, von verborgenen Sonnen, die in einer sowohl zyklischen wie linearen Zeit aufgehen.
Roussels Wahnsinn ist seine Methode, sie macht ihn empfindlich. Das „Double“ ist ein Ohr am weißen Rauschen der Sprache, durch das sie sich immer wieder selbst aussagt, ohne je eine Wirklichkeit zu berühren. In seinen Märchen erzählt die entblößte Sprache die „alten Mythen vom Aufbruch, vom Verlust und von der Rückkehr, jene wechselseitigen Mythen des Selbst, das zum Anderen wird, und des Anderen, das im Grunde das Selbst war, jene Mythen vom Recht auf die Unendlichkeit, die sich als mit dem Kreis identisch erweist“.
Uwe Ruprecht
Michel Foucault: Raymond Roussel. Aus dem Französischen von Renate Hörisch-Helligrath. edition suhrkamp, Bd. 1559, 192 Seiten, 14 DM
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