Das Ende einer Trilogie

■ „Tanz, Marie!“ von Gerlind Reinshagen in Darmstadt und Bonn

Der Lack ist ab. Rituale der Weiblichkeit sind beim Aufräumen und Ausmisten von Lebensgerümpel allenfalls Remineszenz glänzenderer Zeiten.

Heruntergekommen, verwittert ist sie inzwischen: Marie, die altgewordene Elsie aus den Sonntagskindern, Elsa aus dem Frühlingsfest. Das Leben hat Spuren hinterlassen, doch geblieben ist ihr die Utopie vom Glück. Entwürfe erhalten diese Frau lebendig.

Das neue Stück von Gerlind Reinshagen, Titel: Tanz, Marie!, ist letzter Teil einer Trilogie, die den Bogen eines Frauenlebens von der Kriegs- und NS-Zeit über die Wirtschaftswunderjahre bis in die Gegenwart spannt. Auch wenn jedes Stück in sich selbständig dasteht - Kapitel bundesdeutscher Geschichte aus der Innenperspek tive -, das Erzählen spinnt sich thematisch und personal fort, verfolgt die Entwicklung der weiblichen Hauptperson mit und gegen ihre Zeit.

Tanz, Marie! zirkuliert wieder um ein Fest, diesmal kein Frühlingsfest, kein Fest des Neubeginns, sondern das Geburtstagsfest des alten Pauly, ein Fest der Erinnerungen und des Abschieds. Bezeichnend, daß die eigentliche Festlichkeit ausgespart ist: Vor- und Nachspiel nur sind zu sehen - es gibt eben keinen Höhepunkt mehr, eigentlich gibt es auch nichts mehr zu feiern.

In Erinnerungsfetzen läßt Marie an diesem Nachmittag ihr Leben vorbeiziehen. Vorbereitungen auf die Festlichkeit blenden sich ein, allerdings mag sich Vorfreude auf das Fest nicht einstellen. Marie erwartet eher bang ihre dominierende Schwiegertochter, die für den ordentlichen Verlauf der Dinge sorgen wird. Der Konflikt zwischen den Generationen bricht gerade zwischen den Frauen auf: Die Überlebenskünstlerin der 50er Jahre widerspricht in ihrer Lebensform der wohlorganisierten Pragmatikerin der 80er. Diese Rivalität ist durch gegenseitigen Respekt eher verschärft. In den Utensilien, die Marie aus dem Schrank zerrt, materialisieren sich die Stationen der vierzig Ehejahre. Kleider, Tücher, Schals, Kleinkram sind die Überreste stets aufgeschobener Hoffnungen: unentwegte Flucht, immer erneute Lösung von enttäuschten Erwartungen. - „Das Gute an all unseren Umzügen, Pauly, unseren unzähligen Ausflügen, Ausflüchten war die Verringerung der Müllgebirge.“

Als Kinder der Kriegsgeneration lernten sich Marie und Pauly im trostlosesten Augenblick kennen - „das Haus kaputt und weg“ -, und doch konnten die beiden gemeinsam lachen und tanzen. Gerade diese hellen Momente inmitten des Zusammenbruchs will Marie in der Rückschau wahrnehmen, während er für Nüchternheit plädiert: „Mein Leben, deins, Herzliebste, sind wir doch ehrlich, am Ende: Fehlanzeige!“ Marie hingegen träumt sich die Vergangenheit zurecht, eine Lebenslüge, die aus den Fragmenten von Leben ein Ganzes mit all den ungelebten Möglichkeiten zusammenfügt. Vielleicht spielt auch deshalb die zeitliche Ordnung der Dinge für Marie keine Rolle mehr. - „Steht die Uhr? Oder ist sie vorausgerannt?“ Vielleicht löst es ihre Spannung, daß sie gelegentlich ganz bewußt die Rolle der Verwirrten übernimmt. Und doch sieht Marie mit der Abgeklärtheit des Alters. „Wär‘ mein Kopf nicht so... grausam klar wie nie: immer häufiger diese Klarheitsanfälle...“

Heimatlosigkeit, der Mangel an Geborgenheit, Fremdsein ziehen sich als Thema durch das Leben dieses Ehepaares bis ins Alter: Das verfallene Haus, in dem sie auf ihre alten Tage wohnen, ist für sie ein Ort des Todes - am Ende im wörtlichen Sinn. Die Idee allerdings ist geblieben, daß ein anderer Ort das Leben verändern könnte. Zum Geburtstagsfest warten die Kinder mit einer Überraschung auf: Eine pflegeleichte Wohnung für die Alten. Inmitten all der Sticheleien und Wortgefechte sind die einzigen Worte, über die Einigkeit zu bestehen scheint: „Prost auf die Wohnung! Auf das Schloß! Die Zuflucht!“ Die Harmonie ist trügerisch: Auch wenn Marie noch an einen Neubeginn glauben möchte, so fit und durchgeplant zu werden, wie es der Gesellschaft angenehm wäre, weigert sie sich. Auch Marionette ihrer Schwiegertochter will sie nicht sein.

Und tatsächlich gibt Dorothee den Takt an zu einer grotesken Szene: „Eh, warum tanzt ihr nicht? Wir alle tanzen! (...) Vorwärts! Und Wechselschritt! Und Wechselschritt! Der Marschtanz ist euch bekannt! Den schafft ihr doch, noch immer, Schritt, Schritt, Wechselschritt.“ Der Tanz verkehrt sich hier ins Paradox, wird zum Auftritt der Schuldigen, der die Mittäterschaft am Faschismus demaskiert. Dieser Totentanz endet im Chaos, Vorschein auf den letzten Fluchtpunkt, den Tod. Konsequent nur, daß Marie ihr geheimnisvolles Fläschchen schließlich wiederfindet: „Ja, jetzt! Jetzt ist es recht.“ Ihr freigewählter Tod nicht als Resignation, sondern als Akt der inneren Freiheit - so will es die Autorin.

In der Männerfreundschaft zwischen Pauly und Philipp spitzt sich deren Auseinandersetzung aus dem Frühlingsfest zu: Während der Dichter Philipp alle literarischen Moden mitmacht, hat Pauly erkannt, daß bloßer Aufstieg seinem Leben nicht entspricht. Der Streit mit all den häßlichen Vorwürfen läßt Wut und Aggression aufbrechen, jene negativen Energien, die sich durch die Verdrängung der Vergangenheit angestaut haben.

Die Sprache ist immer wieder ein Ort der Rückbindung: Als das Vaterhaus zerbombt war, baute Marie in der Muttersprache neue Perspektiven auf, erzählte ihrem Sohn das Märchen vom kleinen weißen Haus. Das Drama kippt um in dem Moment, da die Fiktion nicht mehr gelingt - „Geschichten, schon tausendmal erzählt, plötzlich verändert, ein anderer Sinn ist da, von einem auf den anderen Tag, warum?“ Die Beliebigkeit der Bedeutungen verweigert jegliche Zukunftspläne. Und dennoch: Der Text des Stücks selber eröffnet einen Raum in der Sprache, baut ein „Haus der Sprache“ - wie Gerlind Reinshagen dies selber nennt.

Die realistischen Dialoge kommen in merkwürdig überhöhten Worten daher. Wenn in früheren Stücken des Zyklus die Sehnsucht nach mehr als nur Alltäglichkeit eruptiv durch die Realitätsebene brach, ist es hier nun umgekehrt. Die rhythmisierten Verse vermitteln das Überwiegen der Erinnerungen und Träume, durch die dann die Wirklichkeit stößt. Eine Theatersprache, in der die inneren Bilder auftreten dürfen.

Ein Glücksfall ist es wohl zu nennen, daß in der Uraufführung am Staatstheater Darmstadt Lore Stefanek Regisseurin (Koregie: Gabriele Jacobi) und zugleich Hauptdarstellerin ist: Sie kannte bereits als Schauspielerin andere Reinshagen-Stücke und hatte nun auch für die Regie ein ganz unmittelbares Gespür - so bemerkte die Autorin im Gespräch. Gerade der Mangel an dramatischer Struktur wird als Konzept plausibel, die weibliche Dramaturgie der Reinshagen, dieses Oszillieren zwischen Vision und Realität, zeigt sich immer wieder deutlich, ja, macht die eigentliche Spannung aus. Die Bühne ist nüchtern gestaltet, ein kühl -blaues Altstadtquartier, schlampig auf großzügige Art. Ihre Marie stellt Lore Stefanek in eben diesem Flirren zwischen Real und Irreal dar, ein verbrauchter Körper, der zuweilen schlaff und huschig ist, dann wieder flink und drahtig, die Stimme müde, brüchig und Augenblicke später resolut, frech oder zart und verträumt, eine alterslose Frau. Margit Schulte-Tigges in der Rolle der Schwiegertochter zeigt weniger Facetten, flott und präzise ist sie durchaus Maries Gegenspielerin, schlägt aber in dieser Dynamik zuweilen recht schrille Töne an. Vage bleiben dagegen die Männer, Pauly (Hans Weicker) und Philipp (Wolfgang Jaroschka), als Gegensatzpaar angelegt, haben unscharfe Konturen, weder Präsenz noch Regieeinfälle kristallisieren die ambivalente Bindung heraus. Ähnlich blaß bleibt auch der junge aufstrebende Sohn David (Aart Veder), mit den übrigen Figuren kreist er eben um die letztlich zentrale Marie.

Kleineres Format hat nun, zwei Wochen später, die Bonner Inszenierung von Karl Baratta, nicht nur im Hinblick auf die Spielstätte selber (Warum die Werkstatt und nicht die Kammerspiele?): Die Bühne versammelt 50er-Jahre-Nostalgie bis ins Detail. Zeitgenössisches wird nicht sichtbar - ein Raum für ein kleinbürgerliches Trauerspiel. Spießige Enge bindet das Stück in der Realität fest, das Versponnene wird hier im Ansatz gekappt. Carmen-Renate Köper zeigt eine Marie, die beherrscht ist in ihrer Verrücktheit, gemäßigt im Schwanken zwischen Phantasie und Vernunft. Wie stets strahlt sie Gelassenheit und Ruhe aus, ihr Sprechen akzentuiert den Text in allen seinen Nuancen. Ihre totale Konzentration verdeutlicht, wie problematisch die Gleichzeitigkeit von Regie und Spiel in Darmstadt ist. Diese souveräne Marie sprengt nun den biederen Rahmen ihres Umfelds. Schwiegertochter Dorothee (Iris Erdmann) kommt betulich, fast weinerlich daher, die drei Männer präsentieren Normalbürger ohne besonderes Profil, bemühte, rührende Gestalten. Lediglich Manfred Schindler bringt mit seinem gelegentlich verschmitzten Philipp Leben in das öde Bild. Die Tanzszene, in Darmstadt der brillante Höhepunkt, gerät in Bonn an den Rand des Peinlichen, ein billiger Schwank allenfalls: Da springt kein Funke über, da fehlt jede Ironie. Dabei ist Tanz, Marie! ein romantisches Erinnerungsstück mit mehrfachen Böden, das auch eine Liebesgeschichte erzählt, spröde und wehmütig - aber nicht trostlos. wie das Leben sie schreibt. Diese Gebrochenheit erstickt bei der Bonner Aufführung, in Darmstadt dagegen inspiriert sie zu Schwung und Humor des Spiels. Wehmut wird da zwar als Grundton spürbar, aber eben auch ein Stück Utopie.

Barbara von Bechtolsheim