: „Unsere DDR - keine Kohlonie“
In Ost-Berlin gingen Zehntausende für die Soveränität der DDR auf die Straße ■ Aus Ost-Berlin Wolfgang Gast
Dem neuen Chef der SED eilt der Applaus bereits voraus. Gregor Gysi wird als Redner angekündigt und seine ersten Worte gehen im minutenlangen Beifall unter. Für die überwiegend jungen DemonstrantInnen, die am Dienstag Abend in der Ostberliner Innenstadt zu Zehntausenden gegen den Ausverkauf der DDR und gegen eine Wiedervereinigung demonstrierten, ist er zweifellos der Hoffnungsträger für eine eigenständige DDR-Identität. Und als der 41jährige SED -Reformer von der Treppe des Schauspielhauses am Platz der Akademie herab rhetorisch die Frage stellt: „Haben wir Gorbatschow jahrelang bewundert und geliebt, nur um jetzt von der Bundesrepublik vereinnahmt zu werden?“ antwortet die Menge mit dem kollektiven Aufschrei „Nein!“ DDR-Fahnen werden geschwenkt, „Nie wieder Deutschland“ und „Unsere Hoffnung: DDR“ gerufen.
Gregor Gysis Appell für ein „besseres“, weil sozialistisches, Deutschland wird ebenso enthusiastisch aufgenommen wie seine Absage an eine Wiedervereinigung. „Wir sind für Zusammenarbeit und Kooperation, aber gegen Abhängigkeit und Vereinnahmung.“ „Wir dürfen jetzt keinen nationalistischen Taumel zulassen“, mahnt er, der die „Ziele und Ideale des Sozialismus kaputtzumachen“ droht. Sein Bekenntnis: „Unsere Identität ist doch nicht schlecht, nur weil wir eine korrupte Führung hatten.“
Wiedervereinigung ist an diesem Abend das Reizwort schlechthin, und nahezu alle RednerInnen fordern die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa. Allein für die Anrede „liebe Bürgerinnen und Bürger der Hauptstadt der DDR“ gibt es tosenden Applaus. Viel Beifall auch für den Vorschlag Wolfgang Wolfs, der im Namen der „Vereinigten Linken“ als Verfassungsgrundsatz vorschlägt: „Die DDR ist ein antifaschistischer, demokratischer und sozialistischer Staat deutscher Nation.“ Zugleich äußert er auch seine Sorge, ob zu dem Zeitpunkt, an dem über eine Verfassung der DDR entschieden wird, nicht schon „Zustände herrschen, die diese Formulierungen gegenstandlos machen“. Während am Horizont der Firmenname des westdeutschen Bauriesen „Dywidag“ an zwei Baukränen einer Ostberliner Baustelle leuchten, fordert er die „öffentliche Beratung über die Bedingungen, unter denen das Kapital in die DDR hereingelassen wird“.
Dem Redner der Bewegung „Demokratie jetzt“ schlägt ein gellendes Pfeifkonzert entgegen. Er hatte versucht in einem Drei-Stufen-Plan Schritte in Richtung einer Wiedervereinigung vorzustellen. Einigkeit herrscht, daß ein Haus Europa einem „großdeutsche Schrebergarten“ vorzuziehen sei. So wirft auch Mario Harmel von der Partei der Grünen den Befürwortern einer Wiedervereinigung vor, daß ihr Handeln „nicht von dem ernsthaften Willen zu einer Erneuerung und den Neuaufbau der DDR zeugt“. „Betrügen wir uns nicht um die Möglichkeiten der ersten wirklich demokratischen Revolution auf deutschem Boden“, fordert er. Das Wiedervereinigungsgeschrei habe „erkennbare Tendenzen“ eines wachsenden Rechtsextremismus in der DDR zur Folge. Wachsenden „Haß“ und Kreise, „die nationalistische Stimmungen schüren“, sieht auch die Sprecherin des Neuen Forums Berlin, Ingrid Koppe. Eine Wiedervereinigung könne zu einer Legalisierung rechtsextremer Gruppen führen. Ihre prägnante Formel: „Erst erwachsen werden und dann vielleicht ans Heiraten denken“.
Anders als in Dresden, wo Tausende für Helmut Kohl und ein „einig Vaterland“ demonstrierten, ist der Kanzler in Ost -Berlin die Zielscheibe ausgesuchter Spötteleien. „Gegen Verkohlung“ heißt es auf den Transparenten, „Unsere DDR Keine Kohlonie“ oder „Helmut, bau deinen Kohl im Westen an, weil man ihn hier nicht brauchen kann.“ Kaum hat sich bei der Demonstration die Meldung herumgesprochen, daß das Brandenburger Tor noch vor Weihnachten geöffnet werden soll, skandieren Hunderte „Kohl durchs Brandenburger Tor - da stell ich mir was besseres vor.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen