: Weihnachten in der Hauptstadt
Stille Nacht, heilige Nacht... Berlin rüstet zum Fest, doch weder still noch heilig. Der Countdown zum visafreien Rachefeldzug in den revolutionären Osten ist abgelaufen, und Hoffmann von Fallersleben droht, falls es Johannes R. Becher nicht schafft, Josef Mohrs friedfertigen Weihnachtssong aus den Tannenbaumcharts zu verdrängen. Doch egal, ob einig Vaterland oder über alles, nicht nur die Hunde in beiden Teilen der Bärenstadt fürchten das teutonische Neujahrsfest.
Nach sechs Wochen test the West blasen nun die Stadtzeitungen zum fröhlichen go east und schwängern ihre Programmteile mit Hauptstädtischem.
Doch Ost-Berlin, seit den Jubel- und Prügeltagen im Oktober nicht mehr zur Ruhe gekommen, gleicht Rom in der Zerfallszeit des Imperiums. Das zentralistische System zerbröckelt, die Macht verlagert sich in die Provinzen, und deren Fürsten erklimmen die Kommandobrücken. Heerscharen aus Nord und Süd durchziehen die Stadt auf ihrem langen Marsch in Richtung Westen, und was von ihnen bleibt, ist der bunte Müll auf regennassen Straßen. Fast täglich inthronisieren sich neue Regenten und werfen die alten Heroen der Presse zum Fraße vor. Das aufgebrachte Volk stürmt Paläste, deren Schätze längst verlagert sind.
Immer mehr deutschtümelnde Kehlen lechzen nach des Kanzlers Bruderkuß und verweigern die Gefolgschaft in den vagen, dritten Weg. Das in Jahrzehnten gemauerte Weltbild zerfällt unter den Augen der überrollten Revolutionäre wie ein Kartenhaus und begräbt, so scheint es, gleich deren Utopien mit. Auch die Szene ist angeschlagen und taumelt zwischen Euphorie und Agonie dem kommenden Rollback entgegen.
Ost-Berlins Szene - gibt es die noch?
In den Schluchten des Prenzlauer Bergs trafen sich seit Jahren schon die, denen das normierte Leben zwischen Thüringer Wald und Ostseeküste den Tag vergällte, die, deren Ausstieg, in der Provinz beargwöhnt, hier an Selbstverständlichkeit und Anonymität gewann. Viele zogen weiter, und der Mythos vom alternativen Biotop in Berlin 1058 kämpfte mit dem schleichenden Exodus um seine Legitimation.
Die, die blieben, weil sie bleiben wollten, gingen den schmalen Pfad zwischen Kriminalisierung und Domestikation, wurstelten weiter oder stiegen auf und ein in den offiziellen Kulturbetrieb. Die Grenzen waren fließend, fließend auch die Prinzipien der Macht.
Hier lief man Sturm gegen die Sprengung der Gasbehälter an der Prenzlauer Allee und zog in den Vorzeigekiez am Kollwitzplatz. Kämpfte gegen Skinhead-Terror und Wahlbetrug und landete schließlich im neuen deutschen Herbst.
Doch jetzt ist es Winter und die Mauern sind gefallen. Hunderttausende feierten mit Heym die frische Luft am 4.November und fürchten nun, daß es kälter wird. Im Grenzen -losen Durch- und Gegeneinander der Überlebensstrategien beginnt der Mythos zu wanken. Der Mikrokosmos scheint aufzubrechen, die Welt steht Kopf und droht ihn zu verlieren. Der große Widerpart ist geschlagen, die Staatssicherheit wurde aufgelöst. Aber ohne Repression auch keine Konspiration, der Dualismus hat seine Konsequenzen. Die einen brechen demokratisch auf, die anderen wollen Demokratie jetzt, SPD, Vereinigte Linke, Grüne, Spartakisten, Trotzkisten...
Und vor der Tür die Büchse der Pandora, der funkelnde Westen. Kühn greift man hinein oder schützt angstvoll die Scham, liftet, maskiert oder bewahrt sein Gesicht. Anything goes - aber wohin?
Andre Meier
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