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Rumänien: die unvollendete Revolution einer Armee

■ Bislang dominierten nach dem Sturz Ceausescu die Streitkräfte / In Brasov (Kronstadt) beschwert man sich über die Wendehälse und die "neuen Roten"

Brasov/Kronstadt (taz) - Julid, der Fußballaltmeister von Brasov - oder auf deutsch Kronstadt -, kennt jeden mit Rang und Namen. Früher war er Werksleiter im Traktoren- und Lastwagenwerk „Steagul Rosu“, Rumäniens größtem Industriebetrieb. Den Alkohol, den er sich in diesen Tagen wie Wasser hineinbechert, schreit er sich aus dem Leib: „Hört auf damit, ich kenn‘ jeden Toten.“

Selbst für seine vier Töchter ist er nicht ansprechbar. Vor seiner Frau verflucht er sein früheres Idol Doina Cornea, die unerschrockene Ceausescu-Kritikerin, die in den letzten Jahren trotz Repression immer wieder in öffentlichen Briefen gegen den Tyrannen wetterte, als Kollaborateurin der „neuen Roten“. Auch seine Mitstreiterin gegen Ceausescu, Gabriela Parvu, wünscht er zum Teufel, da sie vor wenigen Monaten ein „Geschenk“ des Sicherheitsdienstes Securitate annahm: einen Reisepaß, mit dem sie gen Westen verschwand (ein taz -Interview mit ihr erschien am 17.11.87).

Am 15. November 1987 gehörte Julid zu den Organisatoren der bis dahin größten Hungerrevolte im „Reich des Conducators“. Wütende Arbeiter zogen damals vom Industriegebiet ins Zentrum von Kronstadt. „Nieder mit Ceausescu“, skandierten sie und: „Gebt uns Brot!“ Sie zertrümmerten Schaufenster, stürmten das Parteigebäude und lieferten sich mit der Armee stundenlang blutige Straßenschlachten. Dutzende Arbeiter starben unter Gewehrsalven. Julid kam davon. Er wanderte einige Tage in Haft und verlor dann seine Stellung. Fortan ging er als einfacher Arbeiter zur Schicht.

Zwei Jahre später, als im Dezember 1989 der landesweite Aufstand von Temesvar ausging, zogen in Kronstadt wiederum Armee-Einheiten auf. An der gleichen Stelle, an der 1987 hungrige Arbeiter mit den Sicherheitskräften zusammenstießen, griffen Jugendliche in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1989 gleichaltrige Rekruten mit Flaschenwürfen an. Diesmal zog die Armee den kürzeren. Die Jugendlichen entwaffneten ein Dutzend Soldaten und lynchten sie voller Haß, erzählt man sich dieser Tage in Kronstadt. „Das waren Terroristen, die sich mit der Uniform der Volksarmee tarnten“, wird den Fremden gesagt, „und um die ist es nicht schade.“ Anders als die Polen im 1981 ausgerufenen Kriegsrecht trauern die Rumänen nur um ihre Toten, nicht um die „Ceausescu-Treuen“.

Private Rechnungen

Auch zur Jahreswende knallte es laut in Kronstadt - und es waren keine Feuerwerkskörper. Was man in diesen Tagen im Karpatenbecken nicht äußern darf und was doch traurige Wirklichkeit ist: So manche „private“ Abrechnung wird mit Waffengewalt ausgetragen. 60 Leichen beerdigte man zwei Tage vor der Jahreswende in einem Massengrab im Stadtpark, dem neuen Totenacker.

Dennoch: „Stalinburg“, wie die Stadt in den ersten Nachkriegsjahren getauft wurde, ist nicht mehr. Es lebt das alte Brasov, Kronstadt. Ein multinationaler Schmelztiegel. Die Neujahrsgrüße am Zentralkaufhaus stehen erstmals nicht mehr zwischen zwei Ceausescu-Bildern, sondern kleben buntfarbig in drei Sprachen. Die Menschen verbergen ihre nationale Identität nicht mehr, in den Kneipen hört man Ungarisch, Deutsch, Rumänisch. Die Bewohner der Strada Armata Rosie, der Straße der Roten Armee, denken laut darüber nach, der Gasse wieder die jahrhundertealte Bezeichnung zurückzugeben, den Namen des 1612 verstorbenen Ratsherren Michael Weiß.

Im Rundfunk überträgt man Schlager in ungarisch und deutsch oder eine katholische Messe aus der berühmten Schwarzen Kirche. Aus dem Titelkopf der Tageszeitungen ist der Satz „Getreu den Weisungen des Genossen Nicolae Ceausescu folgend“ getilgt. Der deutschsprachige 'Neue Weg‘ beispielsweise nennt sich jetzt schlicht „Tagblatt für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur“, und vor allem bietet er abwechslungsreiche Information.

Handwerkskolonnen nageln Sperrplatten über zerschossene Fenster, Schüler reparieren pausenlos die Oberleitungen der Trolleybusse, Marktstände werden in Speaker's Corners umfunktioniert. Seit die „Front der Nationalen Rettung“ als provisorische Regierung freie Wahlen im kommenden April und ein Mehrparteiensystem versprach, halten Möchtegernpolitiker an jeder Straßenecke ihre Reden.

Bauern aus der Provinz sind angereist, nicht mit Fleisch und Gemüse, sondern mit Protestbriefen gegen die „stille Gegenrevolution“, wie sie es nennen. Sie schimpfen auf die „Wendehälse“, die alten Funktionäre, die weiter weich in ihren Sesseln sitzen. „In den Dörfern blieb alles beim alten - Studenten, helft uns, die Bonzen zu vertreiben!“ rufen die Bauern. Die Kronstädter klatschen, aber sind auch verärgert: „Warum verkauft ihr uns kein Fleisch und Gemüse!“

Übermüdete Soldaten furchteln mit ihren Gewehren aufgeregt umher und eilen blitzschnell zu der Speaker's Corner, als dort zum Sturz der „neuen Roten“ aufgerufen wird. Denn viele trauen Ion Iliescu und seiner achtköpfigen provisorischen Regierungsmannschaft einfach nicht - obwohl über das Radio ein neues Dekret nach dem anderen folgt, immer neue Zugeständnisse an die Bevölkerung gemacht werden, die freie Presse zugelassen, eine 5-Tage-Woche eingeführt und Häftlinge amnestiert worden sind.

Auch meine Ausreise Richtung Ungarn bei dem Ort Curtici ist ein Beispiel für Wendepolitik. Immer wieder hatte ich 1988 nicht einreisen können - aber „nein, nein“, er kenne mich nicht, erklärt diesmal der lange, hagere Grenzbeamte. Als polyglottes Schlitzohr, dem Polnischen, Serbischen und Deutschen fast so mächtig wie seiner rumänischen Muttersprache, weiß er geschickt die Worte zu wenden. „Aber mein Herr, es muß eine Verwechslung sein“, erklärt er mit lammfrommen Gesicht. „Sie sehen doch, ich arbeite bei der Abteilung 'Ausreise‘, von daher war ich nie befugt, Ihnen die Einreise zu verweigern. Das waren andere Beamte, und die haben längst ihre Arbeitsplätze verloren.“ Er reicht mir den Paß und setzt mit einem kurzen, selbstsicheren Lächeln hinzu: „Glauben Sie mir, mein Herr, alles ist bei uns anders geworden.“

Roland Hofwiler

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