Poesie der Stille

■ ARD stellt in einer Spielfilmreihe die „neue taiwanische Welle“ vor

Bis zur Mitte der siebziger Jahre florierte die taiwanische Filmindustrie in enger Verbindung zu Hongkong mit flachen Unterhaltungsfilmen. Die Nichtachtung des Urheberrechts förderte gleichzeitig eine ungehemmte Videopiraterie und darüber hinaus den Status der Insel als Müllabladeplatz amerikanischer Kultur. Die darauf folgende Krise der taiwanischen Filmindustrie wurde erst Anfang der achtziger Jahre überwunden. Der von jungen taiwanischen Regisseuren gedrehte Kompilationsfilm The Sandwichman (1983) wurde zwar kein kommerzieller Erfolg, fand jedoch ein junges taiwanisches Publikum und läutete eine Rückbesinnung auf eigenständige kulturelle Identität ein.

Angesichts der mannigfaltigen kulturtötenden Einflüsse, welche die Insel seit Jahrhunderten durch Einwanderungswellen aus Südchina, portugiesische und niederländische Kolonisation sowie die 50jährige japanische Besatzungsmacht und schließlich die Herrschaft der nationalchinesischen Regierung unter Tschiang Kai-scheck über die einheimischen Chinesen erfahren hat, ferner die rapiden wirtschaftlichen Entwicklungen, die Taiwan in den letzten Jahrzehnten ergriff, haben junge Regisseure wie Hou Hsiao Hsien und Edward Yang der sogenannten neuen Welle in Taiwan auf internationalen Festivals überraschend weltweites Ansehen verschafft.

In einer kleinen Reihe stellen die ARD drei Spielfilme der „neuen taiwanischen Welle“ vor. Hou Hsiao Hsiens preisgekrönte Erinnerungen an meine Kindheit (heute, 23 Uhr) von 1985 zählt schon jetzt zu den Klassikern. In epischer Breite zeichnet dieses 145minütige Werk den Lebens und Leidensweg einer taiwanischen Großfamilie nach. Die strenge Ritualisierung des Alltagslebens wird in langdauernden Einstellungen und sich oft wiederholenden, nur leicht durch Schwenks variierten Kamerapositionen filmerisch umgesetzt. Unablässig werden Böden geschrubbt, wird Essen zubereitet; während im Hintergrund aus dem Radio monotone Propaganda rieselt, erzählt man sich traditionelle, abergläubische Schauergeschichten, und es zieht unbemerkt der technologische Fortschritt ins Land.

Während eines Stromausfalls stirbt der asthmakranke Vater und Ernährer der Familie; ein paar Jahre später folgt ihm die an Kehlkopfkrebs leidende Mutter. Der leise Tod der würdevollen Großmutter, die ihr Lebtag damit beschäftigt war, nach altem Brauch „Totengeld“ herzustellen, um im Jenseits „bezahlen“ zu können, wird erst nach einer Woche von den Enkeln bemerkt.

Der Film ist realistisch, ohne gleich naturalistisch zu werden, und verweigert sich wie Hous letzter Film Liebe wie Staub im Wind von 1987 (15.1., 23 Uhr) bewußt jeder erzählerischen Dramaturgie. Wunderbar sanfte, entspannte und warmherzige Filme, sobald man die Fernbedienung beseite legt und sich darauf einläßt, daß nichts „Aufregendes“ geschieht, sich die alltäglichen Dinge des Lebens aufreihen wie Perlen an einer Kette.

Edward Yangs Spur des Schreckens von 1986, mit dem die Reihe schließt (22.1., 23 Uhr), dokumentiert die thematische und stilistische Vielfalt der neuen taiwanischen Welle. Im Gegensatz zu dem Autodidakten Hou Hsiao Hsien hat Edward Yang in Los Angeles studiert und entsprechende westliche Einflüsse in seinen Filmen verarbeitet. Die Spur des Schreckens ist ein überaus faszinierendes Vexierspiel aus Traumsequenzen, erzählerischen Verschachtelungen und Spiegelungen, das den Verlust traditioneller Kultur und die darauf folgende Entwicklung des Lebens angesichts hochtechnisierter Lebens- und Arbeitsbereiche im Taiwan der Gegenwart zum Thema hat.

Manfred Riepe