piwik no script img

Vertreter der DDR-Opposition besuchen Polen

Walesa äußert sich skeptisch über die Lage / Vorwürfe gegen SED / DDR-Oppositionelle als natürliche Partner angesehen  ■  Von Jakob Marti

Vernetzungsmöglichkeiten neuer Art, auch zwischen der DDR -Opposition und den weiter östlich gelegenen Ländern, tun sich auf. So besuchte eine Delegation von sieben Gründungsmitgliedern der neuen demokratischen Kräfte in der DDR von Mittwoch bis Freitag vergangener Woche zum ersten Mal Warschau und Danzig. Die Einladung war von Fraktionschef Prof.Geremek für die Bürgerschaftsfraktion der „Solidarität“ (OKP) ausgesprochen worden. Vertreten waren das Neue Forum mit Bärbel Bohley und Prof.Jens Reich, die Sozialdemokratische Partei (SDP) mit Stefan Hilsberg, der Demokratische Aufbruch mit Pfarrer Edelbert Richter, die Initiative Frieden und Menschenrechte mit Wolfgang Templin sowie die Gruppe Demokratie jetzt mit Ludwig Mehlhorn und Michael Bartoszek.

Gespräch mit Mazowiecki und Walesa

Es war die erste Auslandsreise, die Mitglieder verschiedener Oppsoitionsgruppen gemeinsam unternahmen. Das Besuchsprogramm machte deutlich, daß die polnische Seite diesem ersten offiziellen Kontakt mit den neuen demokratischen Gruppen eine hohe Bedeutung beigemessen hat.

Einem Treffen mit der Parlamentariergruppe der Bürgerschaftsfraktion am Mittwoch nachmittag, in dem es vor allem um das gegenseitige Kennenlernen ging, folgte ein rund einstündiges Gespräch mit Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki. Dieser sah in der Begegnung eine große Chance, mit den Kräften, die in der DDR voraussichtlich politische Verantwortung übernehmen werden, ernsthafte Probleme in diesem nicht-diplomatischen Rahmen anzusprechen. Für den Abend hatte die Stefan-Bahtory-Stiftung, die Forschungen und Publikationen über ökonomische und soziale Probleme in den ostmitteleuropäischen Ländern und Kontakte dorthin fördert, zum deutsch-polnischen Gedankenaustausch eingeladen. Hier ging es vor allem um den anstehenden Wahlkampf, die Rolle der Opposition und die Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches. Am Donnerstag fuhr die Delegation nach Danzig, wo sie mit Gewerkschaftsführer Lech Walesa und anschließend mit Bogdan Lis und Bogdan Borusewicz, beide Präsidiumsmitglieder des Landesausschusses der „Solidarität“, zusammentraf. Daran schloß sich ein Besuch des Denkmals bei der Lenin-Werft an, das für die Opfer der Arbeiterproteste von 1970 errichtet wurde.

Walesa zeigte sich skeptisch bezüglich der nahen Zukunft Polens: „Wir haben gesiegt“, erklärte er den Besuchern, „aber das war Amateurarbeit. Vom Sieg bleibt nichts übrig. Jetzt beginnen die wirklichen Probleme. Wenn man in die Reformen einsteigt, gehen auch die noch funktionierenden Strukturen in die Brüche. Dann schimpfen die Leute und sagen, es sei unter den Kommunisten besser gewesen.

Sorgen um die Wiedervereinigung

Bei allen Gesprächen, die sehr offen und freundschaftlich geführt wurden, wurden Fragen zur Bestandsgarantie der polnischen Westgrenze und zur Wiedervereinigung sowie Befürchtungen wegen der kritischen Situation des Reformprozesses in der Sowjetunion erörtert.

Die Vertreter aus der DDR ließen keinen Zweifel an ihrer Überzeugung, daß die Oder-Neisse-Linie für immer die Westgrenze Polens bleibe. Diesbezügliche polnische Befürchtungen seien unbegründet. Wer die polnische Westgrenze in Frage stelle, so Jens Reich, sei kein deutscher Patriot. Ludwig Mehlhorn meinte, man müsse jetzt über die Qualität der Grenze sprechen, darüber, ob die Grenze zur Brücke werden könne oder ob sie Barriere bleiben werde.

Vorwürfe gegen die SED

Zu den antipolnischen und nationalistischen Tendenzen sagte Reich, in einer aufgeregten Situation würden auch die „extremen Ränder und Fransen einer Gesellschaft“ sichtbar. Nach seiner Auffassung benützt die SED gezielt einzelne nationalistische Stimmen, um einen „antifaschistischen Block“ zu schmieden und damit von der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Verantwortung abzulenken.

Der SED wurde ferner vorgeworfen, sie habe unter anderem mit den Maßnahmen gegen die polnischen Kleinhändler die latente antipolnische Stimmung in der Bevölkerung vorsätzlich geschürt. Die Wirtschaft sei aber, so Bärbel Bohley, nicht von den polnischen Händlern, sondern von der SED-Regierung kaputtgemacht worden. An Stelle der wirkungslosen, aber diskriminierenden Verkaufsbeschränkungen sei eine konsequente Preisreform notwendig.

Die polnische Seite ließ keinen Zweifel daran, daß sie die neuen Oppositionsgruppen als ihren natürlichen Partner in der DDR betrachtet. Angesprochen wurde auch die Perspektive eines Bündnisses der Reformkräfte in Osteuropa mit Einschluß der Sowjetunion und der baltischen Staaten. Die Vertreter aus der DDR betonten, daß der polnische Reformprozeß, aber auch die Aktivitäten der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ für die Ereignisse der letzten Monate in der DDR eine große Rolle gespielt hätten, auch wenn das in der DDR-Bevölkerung so nicht gesehen werde. Für Wolfgang Templin war der Besuch bei Mazowiecki „ein bewegender Moment“, weil Polen für ihn persönlich und politisch eine große Bedeutung habe.

Die relativ guten Beziehungen zwischen den beiden Staaten in den siebziger Jahren wurden auf Betreiben der SED -Regierung in den achtziger Jahren immer stärker von Erstarrung und Isolation verdrängt. Heute ist die DDR vor allem mit sich selbst und ihrem Verhältnis zur Bundesrepublik beschäftigt. Das gilt für die Anhänger wie auch die Gegner der Wiedervereinigung. Die DDR steht mit dem Rücken zu ihrem östlichen Nachbarn, obwohl sie in ihrer gegenwärtigen Lage mehr Gemeinsamkeiten mit Polen als mit der Bundesrepublik hat.

In dieser Situation hatten die Gespräche ein besonderes Gewicht. Ziel der Reise sei es gewesen, wie Edelgard Richter sagte, den Blick auf den Westen einmal umzuwenden. Beide Seiten haben sich darin verstanden, daß sich jetzt die Chance bietet, qualitativ neue Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu entwickeln.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen