O-Töne aus der Übergangsgesellschaft Deutsche Demokratische Republik£

Gleich am Anfang hörten wir: Warum wollt ihr unbedingt über einen Toten schreiben? Nehmt einen, der noch unter uns ist.

Ewald Warning, der einstige Stellvertreter des vor kurzem aus dem Leben geschiedenen Gerhard Uhe, gab sich auch deshalb ärgerlich, weil vor uns schon Berufskollegen vom kanadischen Fernsehen und vom Sender Luxemburg im Kreis Perleberg zugange waren. Nicht immer mit feinen Mitteln waren sie einer Story hinterhergejagt, die einen guten Verkauf versprach: Selbstmord eines 1.Kreissekretärs der SED.

Laß bloß die Frau in Ruhe, sagte Ewald Warning noch, sie hat es schon schwer genug.

Diese konkrete Bitte müssen wir respektieren. Auch ohne solchen Hinweis hätten wir uns nicht im Gebüsch des Friedhofs versteckt und die trauernde Witwe am Grab belästigt. Wir wären auch nicht über den Vorgartenzaun in das kleine Reihenhaus eingedrungen, um Fragen zu stellen und Möbel in Augenschein zu nehmen, obwohl solche Art von würdelosem Journalismus jetzt leider auch in unserem Land um sich greift.

Doch soviel Abraten von vornherein macht uns andererseits auch mißtrauisch. Gibt es Dinge, die nicht laut werden sollen? Wie wir später erfahren, wurden durchaus geteilte Meinungen dazu geäußert, ob ein Genosse das Recht habe, selbst Hand an sich zu legen. Ein Betriebsdirektor des Territoriums lehnte es sogar ab, an der Trauerfeier für einen Selbstmörder teilzunehmen.

Unser Thema ist nicht das tragische Einzelschicksal eines SED-Funktionärs. Wir haben aus seinem Leben manches gehört, was sich verallgemeinern läßt für Hunderttausende von Genossen, die ehrlich einer Idee anhingen und nach Jahrzehnten anfingen zu ahnen, wie sehr sie im System eines ehern gefügten Apparates mißbraucht worden waren. Gerhard Uhe steht vor allem für die Älteren. Am Ende eines Berufslebens feststellen zu müssen, daß Engagement fragwürdig, Erfolge zweifelhaft, politische Hoffnungen weitestgehend Illusionen waren, kann allein schon eine tödliche Erkenntnis sein. Wie sie sich beim einzelnen äußert, ob in Verbitterung oder Zorn, in einem trotzigen oder hilflosen Parteiaustritt oder einem trotzigen oder hilflosen Weitermachen, ist unterschiedlichen Mentalitäten, sicher auch dem jeweiligen Grad der Informiertheit, der unmittelbaren Betroffenheit und dem Umfeld geschuldet. Der Erste von Perleberg, der viel wußte, wird uns immer wieder als sensibler Mensch geschildert und der, wie uns scheint, sehr allein war, griff am 7.November zur Dienstpistole. Ein Extrem, kein Einzelfall.

Gerhard Uhe wurde 1932 in Brandenburg geboren, der Vater war Arbeiter, Mitglied der SPD. Er wuchs in Wittenberge (Kreis Perleberg) auf, ging dort zur Schule. 1947 begann er im Nähmaschinenwerk eine Lehre als Schlosser.

Zu seinen etwas jüngeren Mitlehrlingen gehörte Heinrich Glaser, heute Meister in der Gehäusefertigung desselben Betriebes. Er bewahrte ein Foto von 1949 auf, das alle Lehrlinge der Jahrgänge 1947 bis 1949 zeigt; von Gerhard, der schon zu den Älteren gehörte, ist in den hinteren Reihen ein schmales, ernstes Gesicht zu sehen.

Gerhard Uhe wurde Mitglied der SED, besuchte schon bald eine Ingenieurschule für Maschinenbau in Karl-Marx-Stadt, wurde nach seiner Rückkehr Abteilungsleiter, dann stellvertretender Produktionsdirektor im Nähmaschinenwerk. Ein gerader Weg, nicht überraschend für einen aufgeweckten jungen Mann. Er war kurz über die dreißig, „als die Partei ihn rief“, wie es Heinrich Glaser formuliert. Und wenn die Partei rief, gab es keine Diskussionen.

Es ist völlig überflüssig, heute die Frage zu stellen, ob ein Werktätiger, der in den fünfziger oder sechziger Jahren einen Sinn darin sah, hauptamtlich und damit zeitlebens in den Parteiapparat zu gehen. Seine Meinung mußte sich einer von anderen festgelegten Disziplin unterordnen. Jedenfalls in den meisten Fällen. Heinrich Glaser hat Ähnliches bei seiner Frau erlebt, die gegen ihren Willen als Erzieherin in einem Kindergarten abberufen und zur Parteischule geschickt wurde. Sicher, eine Kleinigkeit, gemessen an Repressalien, die andere erleiden mußten. Gerhard Uhe ging in die Kreisleitung Perleberg, Frau Glaser zur Parteischule, und das Leben ging weiter. Beiden war nichts passiert, außer daß der gewöhnliche Stalinismus ihre Lebensbahnen ein wenig korrigiert und ihnen auf ewig beigebracht hatte, daß ihr Denken und Handeln ausschließlich im Dienste einer „Sache“ stand.

Unerheblich, im Vergleich zum Inhalt der Lesungen, die wir jetzt hören, auch die Parteiversammlungen, die einberufen wurden, nachdem man Gerhard Uhe dabei ertappt hatte, daß er einem Mädchen, seiner späteren Frau, einen Kuß gegeben hatte. „Das waren Versammlungen“, erinnert sich Heinrich Glaser, „von zwanzig Uhr bis nachts um halb zwei, weil die Moral der Partei geschädigt worden sei.“

Es klingt sehr bitter, als er sagt: „So wurden wir erzogen.“ Und die Partei, die Partei hatte immer recht.

Nach vier Jahren Funktionärstätigkeit wurde Gerhard Uhe 1967 für drei Jahre auf die Parteihochschule des ZK der SED nach Moskau geschickt. Er stand der Sowjetunion nicht fremd gegenüber. Eine erste Verbundenheit ergab sich durch die Mutter, eine gebürtige Russin, später kamen Sprach- und Landeskenntnisse hinzu. Wir können davon ausgehen, daß er sich in den Nächten einsamen Büffelns in einer fremden Stadt auch mit den Gedanken an Bruderbund und Freundesland Mut machte. Zwanzig Jahre später, als das für unverbrüchlich erklärte Bekenntnis zueinander nicht einmal mehr ein paar Filmen standhielt, befestigte er ein Gorbatschow-Bild an der Wand seines Büros. Es hängt heute noch, links neben einem verwaisten Nagel.

Aus Moskau nach Perleberg zurückgekehrt, übertrug man ihm nacheinander verschiedene Funktionen in der Kreisleitung, berief ihn schließlich, im Jahre 1981, zum 1.Sekretär. Da war er fast fünfzig.

Wer Gerhard Uhe erlebt hat, lobt den Stil seiner Reden. Sie hätten immer eigene Gedanken zum Ausdruck gebracht, seien einfach und verständlich in der Wortwahl gewesen. Zugrunde lagen eigene Informationen und ein bewunderungswürdiger Fleiß. Beides zeichnete ihn aus.

Im Nähmaschinenwerk hören wir eine Kassette mit seiner Stimme. Er spricht gleichmäßig laut, sehr sachlich, ohne Phrasen. Bemüht um Anschaulichkeit. Einmal gab es Heiterkeit, als er den Unsinn einer allein wertmäßig abgerechneten Planerfüllung im Kreis darlegte: Der Käufer wolle doch eine konkrete Ware, und man könne ihm deren Fehlen nicht mit einem Überangebot bei einer anderen erklären. Suppenteller statt Kaffeetassen, so in dem Sinne. Den Vergleich kennen wir. Ein Funktionär aus dem Kreis Rudolstadt gebrauchte ihn gegenüber unserer Zeitung, auch bei einem Gespräch im Kreis Heiligenstadt wurde er angeführt. Nun hier wieder. Es ist eine schlimme Vermutung, daß die SED-Kreisleitungen sogar ihre volkstümelnden Scherze aus einheitlicher Quelle diktiert bekamen.

Die Anleitung erfolgte von oben nach unten. Gerhard Uhe hielt sich daran. „Er war ein sehr disziplinierter Genosse“, erinnert sich Erich Postler, ehemaliger 2.Sekretär der SED -Bezirksleitung Schwerin. „Er trat eher nüchtern auf, hat nie vor uns als seiner vorgesetzten Dienststelle lamentiert. Die Aufgaben in seinem Kreis löste er selbst. Das Ansehen seiner Kreisleitung im Bezirk lebte von ihm. Wir wußten, daß er einige Mitglieder seines Sekretariats wegen mangelnder Intelligenz, Faulheit und Bequemlichkeit stark kritisierte, aber nie nach außen hin. Im Gegenteil, vor uns nahm er sie stets in Schutz.“

Erst in seinem Abschiedsbrief an die Bezirksleitung Schwerin wurde Gerhard Uhe deutlich. Er benannte Unfähigkeit und machte Kadervorschläge. Inzwischen gibt es sein einstiges zehnköpfiges Sekretariat nicht mehr. Die neuen Leute, fünf an der Zahl, sind sämtlich in den Dreißigern. Margrit Puls, Sekretär für Ideologie, im erwähnten Brief ohne Worte akzeptiert, ist als einzige im Amt geblieben und mit einjähriger Zugehörigkeit jetzt die Dienstälteste im Sekretariat.

Vor Jahresfrist war sie in jeder Hinsicht die Jüngste und schaute achtungsvoll vor allem auf den Ersten, dessen Wort im Kreis galt, nicht nur für die Partei. „Man konnte von Glück sagen, wenn er eine Zuarbeit unverändert hinnahmn.“ Sie kam nicht dazu, sich einmal menschlich, zum Beispiel über eigene Unsicherheiten, mit ihm auszusprechen. Sie versuchte es auch gar nicht. Der Erste hatte hier und da den Ruf der Unnahbarkeit, das schloß man nicht zuletzt aus seiner Abneigung gegen offizielle Geselligkeiten und Alkohol. Er arbeitete, überstand zwei Herzinfarkte, und sein Eifer nahm mit den deutlicher werdenden Problemen des Landes zu.

Norbert Uhe, der älteste Sohn, der mit seiner Familie in Berlin lebt, erfuhr natürlich, daß der Vater seit der Ausreisewelle im Sommer 1989 körperlich stark abbaute, hörte von der Mutter, daß die Frühstücksbrote abends noch in der Aktentasche lagen, daß dem starken Raucher sogar die Zigaretten verleidet waren. Im Oktober nahm er sich vor, unbedingt nach Perleberg zu fahren, und er macht sich heute große Vorwürfe, daß er die Reise verschob.

Hätte er etwas geändert?

Jetzt, in den Stunden des Grübelns, fallen dem Sohn immer wieder zurückliegende Situationen ein, die ihm vergleichbar scheinen mit den Tagen im vergangenen Herbst. Vor allem das von der Partei gestellte Ultimatum, der 1.Kreissekretär habe entweder jeden Kontakt zu seinen beiden in der BRD lebenden Schwägerinnen abzubrechen oder sich von seiner Frau mitsamt der Westverwandtschaft zu trennen. Und dann diese Szene, als die kleine Schwester bei irgendeinem Streit dem Vater entgegenschleuderte: Wenn du das machst, erzähle ich, daß wir Briefe kriegen!

Im Elternhaus zumindest wurde offen gesprochen. Der Sohn schildert den Vater als einen Menschen, „mit dem man wunderbar streiten konnte. Ich hab‘ ihn oft provoziert, vor allem als Heranwachsender. Ich hab‘ Fragen gestellt und ich war manchmal entsetzt, wie unwissend diese Generation ist. Vater hat zwar versucht, sich eine eigene Meinung zu bilden, aber er lebte so lange im Apparat, daß er sich schon disziplinierte, wenn er bloß an die Öffentlichkeit ging.“

Der Vater ließ alle Kinder, ohne Einspruch, eigene Wege gehen, bis nach Schwerin und Berlin. Die Familie hing aneinander, trotz der Entfernungen. Dennoch ahnte niemand etwas von der Tragödie. Norbert: „Er war nicht der Typ, der anderen seine Probleme aufbürdete.“

Wie tief die Probleme des 1.Kreissekretärs waren, zeigt sich wohl am deutlichsten daran, daß er begann, nicht nur nach eigenen Gedanken, sondern sogar nach der Möglichkeit zu eigenen Handlungen zu suchen. Etwa eine Woche vor seinem Tod rief er einen Arzt an, einen Sprecher des Neuen Forums, und bat um ein Gespräch.

Dr.Klaus Jordan, Facharzt für Innere Medizin an der Poliklinik Wittenberge, war 1979 aus der SED ausgetreten. Etwa zur selben Zeit hatte er Gerhard Uhe zu einer Tauglichkeitsuntersuchung empfangen und nutzte die Gelegenheit für ein, wie er sagt, ideologisches Gespräch. Sein Eindruck damals: Der andere war aufgeschlossen, hörte zu.

Nun, der Anruf, unerwartet, ziemlich dringlich.

Vorausgegangen waren dieser schnell festgelegten „Positionsverständigung“ andere Zusammenkünfte. Am unangenehmsten ist allen, die wir sprachen, die Demonstration in Schwerin am 23. Oktober in Erinnerung. Oppositionelle Gruppen hatten dazu aufgerufen, ähnliches war im ganzen Lande längst üblich. Die damalige SED -Bezirksleitung reagierte im Uralt-Stil: In Bussen, mit Verpflegungsbeuteln versehen, wurden Genossen aus allen Kreisen zu einer „Gegendemo“ in die Bezirkshauptstadt gefahren, um die Kräfteverhältnisse zugunsten derer auf der Tribüne zu verschieben. Daß sie nur Zutat zu einem peinlichen Politspektakel waren, wurde selbst den freiwillig „zum Dialog“ nach Schwerin gefahrenen Genossen - auch den Perlebergern - erst an Ort und Stelle klar. Der „Ziegner -Tourismus“, benannt nach dem ehemaligen 1.Sekretär der SED -Bezirksleitung Schwerin, bewirkte Parteiaustritte und böse Stimmen in den eigenen Reihen.

Was sollte ein 1.Kreissekretär darauf entgegnen?

Vorausgegangen waren in Wittenberge friedliche Zusammenkünfte in der Kirche, mit einsatzbereiten Polizeimannschaftswagen im Hintergrund. Jeden Tag zirkulierte im Lande ein im ZK der SED erarbeitetes, von den Bezirksleitungen an die Kreise weiterzugebendes Papier „Zum 'Neuen Forum‘ und zu anderen illegalen oppositionellen Gruppierungen in der DDR“. Nach Vokabeln wie „sozialismusfeindliche Kräfte“, „Bruch der Verfassung“ und „außerhalb von Recht und Gesetz“ der Satz: „Wer ihnen seine Sympathie bekundet, muß wissen, worauf er sich einläßt.“

Das war nun kein volkstümlicher Scherz mehr, das war eine klare Drohung.

Das Treffen mit dem Neuen Forum fand am Sonnabend, dem 4. November, drei Tage vor Gerhard Uhes Tod, statt. Dr.Jordan und der ebenfalls zur Gesprächsrunde gehörende Dr.Wolf Meinhold, Oberarzt im Kreiskrankenhaus Wittenberge, sehen rückblickend keinen resignierenden Mann vor sich, sondern einen, der sich um Verstehen bemühte, „obwohl er häufig mit dem Kopf schüttelte“. Die Einschätzung des als kooperativ und sympathisch empfundenen Gegenübers führte zu der Meinung, er hätte mit seiner Person der SED gut getan. „Wir waren äußerst betroffen. Vielleicht hätte sich eine Zusammenarbeit entwickelt.“

Vermutungen, daß die Schweriner Bezirksleitung ihren 1.Sekretär wegen seines eigenmächtigen Vorgehens kritisierte, bekamen wir nicht bestätigt. Ebenfalls unbestätigt bleibt für uns die im Nachruf der Bezirksleitung aufgestellte Behauptung, der Selbstmord sei in einem „depressiven Zustand“ erfolgt. Oder auch, wie in der Kreisleitung kursiert, als „Kurzschlußhandlung“.

Etwa eine Woche vor seinem Tod empfing Gerhard Uhe Besuch von Günter Romanowski, Leiter des Wittenberger Korbwarenbetriebes, Freund seit Kindheitstagen. Das Ehepaar Romanowski gehörte zu den wenigen, die über einen kollegialen Kontakt hinaus mit Uhes familiäre Beziehungen pflegten. Um Politik ging es weniger, aber um Unterstützung, als die Kinder noch zu beaufsichtigen waren, um den Fußballsport, den die Männer in der Jugend ausgeübt hatten, um den Garten, den beide Familien besaßen.

Uhes lebten sehr einfach. „Wenn ich daran denke, wie die Familie jahrelang gewohnt hat, zusammen mit einem alten Ehepaar in einer Wohnung, gemeinsame Küche, gemeinsames Bad. Da arbeitete Gerhard schon in der Kreisleitung. Und dann die Urlaube. Einmal, vor vielen Jahren, mit der 'Völkerfreundschaft‘, aber sonst?“

Das letzte Gespräch, im nachhinein hin- und hergewendet. „Die große Welle kommt auf uns zu“, hätte Gerhard gesagt. „Ob du recht hast oder nicht, die lassen dich gar nicht mehr zu Wort kommen...“ Und dann dieser letzte Satz, schon in der Tür: „Aber wir bleiben doch Freunde?“ Darüber habe er am Abend lange mit seiner Frau gerätselt: Wie meint er das bloß?

In Perleberg kursierten „Enthüllungen“. Als aus SED -Führungskreisen eine Amtsanmaßung nach der anderen bekannt wurde, schlossen einige Leute die Person des Ersten wie selbstverständlich mit ein. Er solle - so hieß es - seinen drei Kindern über Parteiquellen Pkw Marke „Lada“ besorgt haben. Sogar die Farbe der Autos war im Umlauf: rot. Das Gerücht konnte sich nicht lange halten, zu offensichtlich war, daß zwei der Kinder überhaupt kein Auto besitzen und ein Sohn „Wartburg“ fährt.

Mißtrauen kroch umher. „Aber wir bleiben doch Freunde?“ Das hatte einer gefragt, der sich schon allein sah. Im Abschiedsbrief an die Bezirksleitung steht die Bitte, die Frau bei eventuell gewünschten Besuchen ihrer Schwestern in der BRD zu unterstützen. Auch Gerhard Uhe konnte die Öffnung der Grenze nicht voraussehen. „Ob sie weiter hier leben will, soll sie selbst entscheiden. Viele Menschen wenden sich heute von uns ab, sind längst nicht mehr so wie ehedem. Ich weiß nicht, ob sie das Klima so vertragen wird.“

Die letzte Kreisleitungssitzung, an der Gerhard Uhe teilnahm, fand am 1.November statt. Er informierte über die Kritik vieler Genossen am zu geringen Auftreten führender Funktionäre, „die zwar im Einsatz waren, aber dabei die Öffentlichkeit vernachlässigt hätten“.

Wie hatte Ewald Warning auf unsere Frage geantwortet? Die Genossen der Kreisleitung seien in den kritischen Oktobertagen „täglich draußen“ gewesen. Wo war „draußen“? In den Büros der Betriebsparteiorganisationen?

Schon die erste Diskussionsrednerin kritisierte den Bericht, sie hätte mehr erwartet.

Gängige Floskeln fielen plötzlich durch. Am Freitag, dem 3.November, eine Nachricht, die den verzweifelten Gerhard Uhe möglicherweise weiter verunsicherte: Ablösung Heinz Ziegners!

Am Sonntag dann ein Bürgerforum im Klubhaus des Nähmaschinenwerks Wittenberge. Von mehreren Beteiligten wird es als sachlich beurteilt. Gerhard Uhe muß es anders empfunden haben. Der Führungsanspruch seiner Partei wurde offen in Frage gestellt. Die Empörung über Verbrechen der Parteiführung - damals erst in Anfängen bekannt - wurde laut. Man bezweifelte, daß die SED die Zeichen der Zeit erkannt habe.

Zwei Tage später, gegen Mittag, erschoß sich Gerhard Uhe in seinem Büro. In dem hinterlassenen Brief an die Genossen seiner Kreisleitung finden sich die Sätze: „Der Wende in unserer Politik will ich nicht im Wege stehen, vielleicht ich hoffe es - wird es manchem zu denken geben, nicht alles aufzugeben, was wir an Gutem für die Menschen erreicht haben, sondern, darauf aufbauend, neu zu beginnen. Das fordert Opfer... fangen wir 'oben‘ neu an.“

Steffi Knop

Wochenpost Nr.52, 1989