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DAS IST KLASSE!

■ „Das ist schön“ und „Für nichts und wieder nichts“ von Nathalie Sarraute im „Studio“

Als Klassiker ist Nathalie Sarraute in Deutschland relativ unbekannt. Eingeweihte werden sie dem „Nouveau Roman“ zuordnen - in diese Klassifizierung ist sie eher zufällig gefallen, weil sie auf einem Photo mit erklärten neuen Romanisten zu finden war - und sie werden erstaunt sein, daß die nunmehr 89jährige noch lebt & schreibt. Seit den sechziger Jahren auch Bühnenstücke, die die Regisseurin Astrid Windorf vor zwei Jahren erstmals auch auf deutsche Bühnen brachte.

Sprache, Sprachbezirke, Lebensbereiche, zwischen denen Kommunikation scheitern muß, zumindest Freundschaft unmöglich ist, sind die Themen. Wechseln Nathalie Sarrautes Personen in den anderen Bereich - vielleicht nur, um zu verstehen -, fühlen sie sich bedroht. Die eigene Sprache wird unecht, verkrampft, zu leise, zu laut. In dem Einakter Das ist schön, der zum ersten Mal in deutscher Sprache aufgeführt wird, wird Sprache zur Pose, mit der die Eltern versuchen, das Kind in ihren Bereich zu ziehen. Oder sie wird zum Köder wie in dem Sprechstück Für nichts und wieder nichts - mit dem der praktische Freund den Künstler -Freund in seinen geordneten Bereich lockt, um ihn, der stolz darauf ist, „auch eingeladen worden zu sein“, mit einem „Ach, wie schöön“ zu zerdrücken.

Zwei Lager stehen sich jeweils gegenüber: hier die Praktiker, für die alles selbstverständlich ist, und dort die Künstler, beziehungsweise hier die Kinder und dort ihre Eltern - Familie, Freundschaft, Geld, Sprache - die gesellschaftlichen Verbindungen zwischen diesen Lagern sind erzwungen oder beruhen auf Mißverständnissen. In der Psychopathologie unterscheidet man zwei Arten der Sprachstörung. Als Aphasie bezeichnet man eine Störung des reinen Sprechvermögens und Sprachverständnisses; Aphatiker verstehen Sprache nur durch die den Sprechakt begleitenden Haltungen, Ton, Mimik, Gestik etc. Unter Agnosie leiden Patienten, die die den Sprechakt begleitenden Haltungen nicht verstehen. Ihnen fehlt jeder Begriff von Ausdruck und Ton, während ihr Verständnis für Wörter unverändert erhalten bleibt. Wenn das Verhältnis zwischen Aphasie und Agnosie auch nicht genau das Verhältnis zwischen den Lagern abbildet, so kann es doch als Bild ihres Verhältnisses dienen. Zwischen Aphasie und Agnosie gibt es keine Verständigung. Vielleicht Höflichkeit oder Scham. In jedem Fall: Angst.

Nathalie Sarraute ergreift keine Partei, wenn man davon absieht, daß die Äußerung, der Text selber, schon Partei ist gegen die Praktik des Selbstverständlichen.

Es gibt keine Psychologie; weder in den Texten, die ursprünglich als Hörspiele geschrieben wurden, noch in der Inszenierung, die wiederum Astrid Windorf besorgt hat. Kein Innen. Es gibt nur die Wörter und Sätze, die nach Körpern, nach Tönen, Gesten, Schritten verlangen; nur die Textmelodie, die sich erst in einer strengen Choreographie verwirklicht (auch dank einiger Korrekturen der unspielbaren Übersetzung von Elmar Tophoven), die die alltäglichen Wörter und Sätze in ihrer Logik heraustreten und sie nicht, wie bei Duras, in einem diffus melancholisch-narzistischen Innenraum verschwinden läßt.

Im gleißenden Licht ganz nah an der Bühne sieht man jeden Schweißtropfen der Schauspieler. Die Bühne: Schwarz und Weiß und Grau, Schiebewände an der Seite, im Hintergrund, ein verschwindend sachliches Sofa. Keine Sachen, die irgend etwas über die Personen auf der Bühne verraten würden, keine Geheimnisse; die Bühne funktioniert, ohne der Gefahr zu erliegen, ihre Sachlichkeit zum koketten Zeichen werden zu lassen.

„Das ist schön, findest du nicht auch?“ fragt der Mann im ersten Stück von 1972 seine Frau, ohne Antwort oder Bestätigung zu bekommen. Die Sprache wird spastisch, wenn der Sohn dabei ist. Der wird weggeschickt. Sprich mir nach: „'Das ist schön‘ sind Wörter, die wir in Gegenwart unseres eigenen Kindes nicht auszusprechen wagen.“ Der Sohn ist „stumpfsinnig. Beschränkt. 'Pragmatisch‘. Comics, Krimis, Computerspiele... Sportschau... Feines Früchtchen.“ Die Eltern steh'n außerhalb.

Durch Erklärungen versuchen sie, den Sohn wieder in ihren Bereich zu ziehen. Sind nicht schwerwiegende Fehler gemacht worden? Die Mutter hat ihn nie zärtlich „Mein Bübchen“ nennen können. Ihr schien, „als wäre das ebenso ungehörig, wie wenn man Jud‘ sagt oder Nigger“. Unter Tränen hat sie während ihrer Schwangerschaft gedacht, daß sie das Kind nicht haben wollte. „Man weiß doch jetzt, daß so was zählt... Alles kann darauf zurückzuführen sein... Alle Fehler... alle Verbrechen...“

Hat man so das Übel, das Nichts, das einen spastisch werden läßt, benannt, kann seine Manifestation weggeschlossen werden. Der Sohn soll weg, „ins Gefängnis... in eine Besserungsanstalt. Er soll verschwinden... sich zum Teufel scheren.“ Die Normalität fragt aus dem Mund der Mutter, um später als berlinernde Putzfrau wiederzukehren: „Isser denn een Mörder... een Dieb... isser etwa pervers? Oder een Lahmarsch?“

Er: „Was hast du gesagt? Ich habe 'Lahmarsch‘ verstanden. Hast du nicht 'Lahmarsch‘ gesagt? ... So weit ist es mit dir gekommen... Daß du dich gehen läßt... dich vergißt... dich erniedrigst...“

Bestimmte Wörter sind verboten, weil sie der Kollaboration mit dem Feind verdächtig sind: „'Lahmarsch‘ ist verboten... 'Lahme Ente‘, das ist erlaubt. Das ist vornehm, treffend, überlegen... 'Lahme Ente‘ ist schön. Schön. Schön.“

Im Hintergrund meldet sich die Putzfrau: „Ah, is det nich traurich, so wat zu erleben... Det arme Kind davonjagen zu woll'n!“ Eigentlich ist doch nichts. Der Junge ist höflich, ernsthaft, fleißig. Er ist eben „mehr für Comics... für die Mattscheibe“, kein Ästhet wie der Vater. Geschmeichelt freuen sich die Eltern. „Wiederhole: 'Alle jungen Leute sind so.'“

Begeistert nehmen die Eltern an, daß sie die Verrückten sind und sich in den Spitzfindigkeiten privilegierter Kreise ergehen. So haben sie eine neue Strategie gefunden, den Sohn zu sich herüberzuziehen. Er wird zurückgerufen. „Das ist schön“ klingt so aufgesetzt, unecht, „Nicht wahr?“ fragen die Eltern ihren Sohn. Wie heißt das Wort noch, das echt klingt? „Klasse“, antwortet der. „Das ist Klasse“, freut sich die Mutter. Zwei verständnislose Diskurse haben sich in einem Wort gefunden. „Klasse!“ Die Mutter legt ihre Lieblingsmusik auf: „Ist das nicht ... klasse?!“ (unsicher, hysterisch) Der Vater zerhaut den Plattenspieler. „Warum tust du das nur? Wir hörten so schön... Es drang ein... erfüllte uns...“ Ist nicht so schlimm, meint der Sohn.

Das Nichts liegt als Katastrophe zwischen den Wörtern. Eigentlich ist nichts geschehen. Wie im zweiten Stück Für nichts und wieder nichts von 1982. Eine Pause zwischen den Worten - „Ach... wie schöön“ - läßt diese herablassend werden und führt zum Bruch „wegen nichts und wieder nichts“. Zwei Freunde, der eine eher Künstler, eine „Randfigur“, ein „Maulwurf, der unter den gut gepflegten Rasenflächen“ des anderen, unter der Wirklichkeit des erfolgreichen Praktikers herumwühlt. In den Personen treffen zwei Bereiche, zwei Glücks- und Lebensattitüden, aufeinander. Sie posieren oder erwecken Neid, bewegen sie sich in der Sphäre des anderen. „Das äußere Glück“ des Praktikers - Frau, Kind + Erfolg erscheinen dem Künstler als Pose der Macht, während der Praktiker das „namenlose Glück“ des Künstlers nicht ertragen kann.

Im Moment des Grenzübertritts wird der eigene Bereich wertlos. „Das Leben ist nicht mehr lebenswert, wenn ich versuche, mich an deine Stelle zu versetzen.“ Für nichts und wieder nichts ist ein Trennungsspiel, ein Spiel der Gesten, der Bewegungen, des Sitzens oder Stehens, der Worte, die, mögen sie auch zunächst noch so ehrlich gemeint sein, plötzlich umkippen, zu Fallen oder zur Pose werden. Wer trennt sich, wer opfert den Freund und ist so überlegen?

Ist die Trennung legitim? Ein Sofa mit zwei Bürgern oder einem Ehepaar kracht als Jury durch die Wand. Er, klein, dick, mit Baskenmütze, Wollweste, kariertem Hemd und Pantoffeln, sie in Morgenmantel, Lockenwickler. - Wunderbar, Slapstick - „Eigentlich verstehen wir ja von solchen Sachen nichts“, sagen sie. „Ja, aber Herablassung, wissen Sie; die kann manchmal...“, gibt er, eine dostojewskimäßige Beamtenfigur, zu bedenken, um mit fester Stimme zu enden: „Ich würde nicht so weit gehen, daß ich nicht mehr mit ihm verkehren wollte, aber...“ Der Künstler ist logisch der Spinner.

„Da draußen, das ist das Leben...“, sagt der Künstler, der für nichts und wieder nichts bricht, und legt seinem Freund, der aus dem Fenster schaut, versöhnlich den Arm auf die Schulter. „Verlaine!“ ruft der Praktiker, der das Zitat erkennt. Eine Falle: Der Praktiker ist lyrisch geworden. Ertappt. Ausgleich. Beide werden gemeinsam ihr Trennungsgesuch aufsetzen.

Da es kein Innen, keine Psychologie gibt, müssen die großartigen, klasse! - Schauspieler auf jede Theatralik, auf jede Geste verzichten, die sie als individuelle Person bezeichnen könnte. Es gibt keinen Interpretationsraum, der sie in ihrem Spiel schützen könnte. Kein Hamlet, den man über- oder untertreiben könnte, kein Ich, das man kokett hinter der Rolle vorschauen lassen könnte. Verlangt ist - so blöde es klingen mag - äußerste Demut, wie man sie sonst vielleicht nur im japanischen Theater findet. Wenn alles veräußerlicht wird, mag das im wirklichen Leben ein besonders hinterhältiger Trick sein, das ach-so-zarte Innen vor rohen Händen zu schützen; im Theater ist es das Schwierigste. Es gelingt großartig. Um so erstaunlicher, da auf der Premiere einiges an Schnitzern passierte; Tempi wurden verpatzt, eine Textstelle vergessen - es ist also schließlich wie in der taoistischen Fabel: Ein großer Pferdekenner wird vom Kaiser auf die Suche nach einem außerordentlichen Pferd geschickt. Aus der Provinz berichtet er, daß er eine graubraune Stute gefunden hätte. Es stellt sich jedoch heraus, daß es in Wirklichkeit ein kohlschwarzer Hengst war. Der soll was von Pferden verstehen? „Doch das, worauf Kao sein Augenmerk gerichtet hatte, ist der geistige Mechanismus. Er vergewisserte sich des Wesentlichen und vergißt die groben Einzelheiten.“ Es stellte sich heraus, daß das Pferd in der Tat ein außerordentliches Tier war.

Detlev Kuhlbrodt

Nathalie Sarraute: „Zwei Stücke“, Regie: Astrid Windorf, mit: Frank Thomas Mende, Ludwig Hollburg, Ulrike Jackwerh, Markus Majowski, Maria Gräfe im Studio des Renaissance -Theaters, 10.-14. Januar, 20 Uhr.

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