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Vertreibung aus dem Paradies

■ "In Andorra gibt es alles" - Zitat aus dem offiziellen Landesprospekt

Alexander Smoltczyk VERTREIBUNG AUS DEM PARADIES

„In Andorra gibt es alles“ - Zitat aus dem offiziellen Landesprospekt

Vor den Toren des Paradieses heißt es warten. In langen Autoschlangen parkend, harren sie geduldig aus, bis sich am Grenzort Pas de la Casa der Schlagbaum öffnet: tatendurstige Freizeitschmuggler, die von der Kunde steuerbefreiter Reichtümer in dieses karggraue Pyrenäental gelockt worden sind. Doch da tönt von weitem schon muntere Musik über die Geröllfelder, und - nähert man sich dem Städtchen - erste fröhliche Rufe erschallen: „Michel, hast du die Schecks eingesteckt?“

Eine emsige Schar von Konsumenten aller Länder drängelt sich dort mit aufgerissenen Augen durch die Gassen. Wie das glitzert, wie das glänzt! An den Türen der Geschäfte prangen die Insignien der Kreditkartenfirmen, kein Zweifel: anything goes. Die Vitrinen sind farbenfroh geschmückt, und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Hier im Fürstentum Andorra herrscht ständiger Ausnahmezustand, hier wuchten sich spinnenbeinige Familienväter schwere Kisten auf die Schultern, hier huscht jugendliche Röte über die Wangen der Senoras, denn alle, alle sind befreit von der Bürde der Mehrwertsteuer. „Nee, wat is dat billich!“ haucht es vor dem Schild, „sechs Mark ein Liter Whisky.“

Hinter den Fassaden sind unentwegt kauende Müllpressen zu sehen, die Kartons verdauen - keine unwichtige Einrichtung, schließlich sind Verpackungen den französischen Zöllnern untrüglicher Hinweis auf ein Zollvergehen. Die Kirche in Pas de la Casa dagegen hat auch an diesem Sonntag geschlossen, denn die heilige Schrift steht woanders geschrieben, und unaufhörlich murmeln die Gläubigen die Suren des Konsum -Korans: „Lacoste“, „Jim Beam“, „Chanel“ und - vor allem „duty free“. Pastis, Cognac, Tabakstangen, intelligente Uhren und Liliput-Fernseher - all diese unentbehrlichen Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs gibt es in den andorranischen Tälern 14 bis 33 Prozent billiger, je nach dem Mehrwertsteuersatz zu Hause. In einem Wort: das Paradies. EG greift ins Steuer

Doch ach, strafend blickt schon der Erzengel Gabriel in Gestalt der EG-Kommission auf diesen unschuldigen Flecken Bergland: Für eine fiskalische Insel der Seligen soll im geeinten Binnenmarkt kein Platz mehr sein. Die bis 1993 geplante Angleichung der Mehrwertsteuersätze schwebt wie eine dunkle Wolke über Andorra: „Die Europäer wollen uns an den Kragen“, sorgt sich ein Hongkonguhren-Dealer.

Bislang ächzten etwa die Spanier noch unter Verbrauchssteuersätzen von bis zu 33 Prozent. Das lohnte die Tour in die andorranischen Berge. Wenn Madrid seine Sätze an die EG-Norm anpassen, also, je nach Produkt, auf 14 bis 20 Prozent senken wird, lockt das Steuerparadies hinter den sieben Bergen natürlich weniger.

Spätestens zwei Jahre nach dem EG-Beitritt Spaniens sollte Andorras Situation „normalisiert“ werden, hatte es geheißen. Pustekuchen. Also drängelten die EG-Mitglieder 1989 auf rascheste Verhandlungen. Viele Politiker sehen in dem blühenden Minitop Andorra bis heute nichts anderes als den modernen Nachfolger der Tabakschmuggler des 19. Jahrhunderts, die ihrem Land schon damals zu einem gewissen Wohlstand verholfen haben. Doppelspiel der Doppelprinzen

Herr Josep Maria Pla ist nicht nur ein gelungenes Produkt französischer Managerschulen, sondern auch verantwortlich für die Verhandlungen mit der EG. Sein Büro liegt gleich neben dem andorranischen Landesparlament, einer Art größerem Bauernhaus aus dem Jahre 1530, in dem sich seither das Einkammerparlament trifft. Herr Pla jedoch ist keineswegs angestaubt, sondern Exponent des jungen aufstrebenden Andorras: „Alles lästert über unsere angeblich feudalen Strukturen, unsere Koprinzen usw. Aber wir sparen uns dadurch eine Armee und diplomatische Vertretungen. Das entlastet das Budget gewaltig.“ Das gewiß nicht unansehnliche Salär des Herrn Pla wird - wie 93 Prozent aller Staatsausgaben - in Ermangelung von Steuern von der achtprozentigen Zollgebühr gedeckt, die auf alle Importe erhoben wird.

Doch zurück zu Europa: „Die Verhandlungen sind sehr kompliziert. Andorra verhandelt mit der EG-Kommission, diese verhandelt wiederum mit den Mitgliedsländern. Darunter natürlich auch Spanien und Frankreich, die bekanntlich unsere Koprinzen stellen, aber ganz eigene Interessen haben.“ So sitzen in Andorras Delegation auch zwei Vertreter von Koprinz Mitterrand, die sehr genau wissen, in welchem Maße den Einzelhändlern in Toulouse und Montpellier das fürstliche Steuerparadies ein Dorn im Auge ist. Doch Herr Pla ist zuversichtlich, daß die Verhandlungen in Brüssel auf einen Kompromiß hinauslaufen werden: „Andorra wird seine Steuern weiter frei bestimmen können, solange wir Waren aus der EG steuerlich nicht benachteiligen. Bleibt das Problem der Mehrwertsteuersenkungen in Frankreich und Spanien. Keiner weiß, was dann geschehen wird, ob die sechs Prozent Differenz den Weg noch lohnen lassen.“ Sein Fürstentum werde sich längerfristig ein zweites Standbein wachsen lassen müssen: den höherwertigen Tourismus. Sommerfrische im Nachtwächterstaat

Mit Ausnahme der mit französischem Kapital gebauten Skistationen in Encamp und Pas de la Casa ist Andorra ein Land der billigen Sommerfrische bei Privatvermietern geblieben - ökologisch löblich, aber volkswirtschaftlich suboptimal. Also, meinen die Honoratioren, muß auf hochwertigen Tourismus umgeschaltet werden. Nur, wie soll ein Musterfall von Nachtwächterstaat wie Andorra, wo dem Markt stets freie Hand gelassen wurde, die nötigen Straßen, Stromtrassen und Hotelkomplexe finanzieren? Etwa durch Einführung einer Einkommenssteuer? Ein Schauder durchfährt Herrn Pla: „Niemals! Das ist Konsens im Fürstentum“, und wer der fiskalischen Versuchung erliegt, wird ruck, zuck abgesetzt: so 1981 der unglückliche Govern Oscar Rivas. Nein, Andorras Technokraten setzen auf den Investitionswillen ausländischen Kapitals, das allüberall auf bunten Plakattafeln willkommen geheißen wird: „Steuerfrei investieren - in Andorra!“.

Ob der ungezügelte Liberalismus das Land zu touristischem Wohlstand führen kann, ist anzuzweifeln. Zwar schwärmt der in Deutsch herausgegebene Werbeprospekt in seinem Kapitel Andorra - ein großartiges Land noch von „den allerlautersten, ökologischen Erscheinungen“ - doch kann damit die kapitalüberflutete Hauptstadt Andorra-la-Vella kaum gemeint sein: In dieser lautesten aller Hauptverkehrsstraßen ist ab neuen Uhr morgens an Atmen nicht zu denken. Dicht an dicht staut sich der Verkehr im Talkessel, und Laster voller Importwaren quetschen sich durch das „vollkommene Gleichgewicht zwischen den dynamischen und strahlenden Geschäftsstraßen“ (obengenannter Prospekt). Benzin wird nicht besteuert - um die Kauftouristen nicht abzuschrecken, heißt es. Von Graffiti oder Protestplakaten keine Spur - schließlich gibt es ja auch keine Parteien. Von den Bergen, die bis an die Stadtgrenze reichen, ist nur ab und zu eine Kuppe zu sehen: „Herrliche Ausblicke, der Liebreiz der prächtigen Seen und lustig plätschernde Bäche erfreuen das Herz des Besuchers“ (Prospekt). „Herrliche Ausblicke“

„Die Verschmutzung der Stadt ist unglaublich“, empört sich Carme Grau-Ribot, die nicht nur einen sehr kleidsamen Zopf, sondern auch die Verantwortung für 'Poble Andorra‘ trägt, die größte Zeitung des Zwergstaats. Bisweilen drücke die Inversionswetterlage den Qualm der Müllverbrennungsanlage, die 300 Meter oberhalb der Stadt steht, bis in ihre Redaktionsstube. Obwohl schon 1979 eine Studie auf den Zusammenhang von Luftverschmutzung und dem Waldsterben in Andorra hingewiesen hat, dauerte es bis letzten Oktober, daß eine moderne Luftmeßstation eingerichtet wurde. Von effektiven Maßnahmen gegen Luftverpester jedoch keine Spur: „Zwar gibt es seit kurzem Abgasvorschriften“, meint Frau Grau-Ribot, „doch niemand kontrolliert deren Einhaltung. Den Effekt riechen sie selbst.“

Auch Andorra-la-Vellas Abwässer rieseln nahezu ungeklärt den Riu Valira hinunter in Richtung Spanien. Die Spanier rächten sich auf ihre Weise. Im September enthüllte 'Poble Andorra‘, daß die Madrider Firma ENRESA im Dörfchen Tor ein Atommüll-Zwischenlager einrichten möchte - drei Kilometer von der andorranischen Grenze entfernt. Ein großartiges Land.

Bei den letzten Parlamentswahlen Anfang Dezember gewann der oppositionelle „Erneuerungsblock“. Dieser wird am 15. Januar den neuen Govern stellen. Ob sich dann etwas ändern wird? Frau Grau-Ribot ist skeptisch, nicht allein, weil sie trotz perfekten Katalanischkenntnissen und 17jährigem Aufenthalt ihre französisch-spanische Doppelnationalität nicht gegen die andorranische eintauschen darf und damit von Wahlen ausgeschlossen ist: „In Andorra gibt es keine Parteien, sondern vielmehr zwei politische Familien. Beide sind erzkonservativ, weil keine die Vorherrschaft des Marktes infrage stellen will.“

Noch akuter als die zunehmende Verschmutzung des Pyrenäenreichs ist die Wohnungsnot. Wie in allen Gebirgsstaaten ist Baugrund knapp. In Andorra ist er zusätzlich mit Ladengeschäften und Lagerhallen zugestellt so dicht, daß ein Spielkasino, mit dem edle Kundschaft geködert werden sollte, in unmittelbarer Nähe eines von Müllverbrennungsanlagen und Schrottplätzen okkupierten Terrains errichtet werden mußte. Rien ne va plus. In völliger Ermangelung sozialen Wohnungsbaus, geschweige denn Wohngelds, sind die Mieten der Stadt höher als der Pic des Pessons: Unter 30.000 Peseten (500 Mark) ist kein Zimmer zu bekommen, 60.000 Peseten beträgt eine normale Monatsmiete. Etwas weniger also, als der Mindestlohn von 70.000 Peseten. Derartige Mieten mögen für die Andorraner mit ihren 35.000 Mark Jahresdurchschnittseinkommen akzeptabel sein. Doch die Mehrheit der Bewohner Andorras sind bedauerlicherweise keine Andorraner. Die jüngste Volkszählung vom Oktober 1989 ergab für das 46.000-Seelen-Land eine satte Dreiviertelmehrheit von Ausländern. So gibt es weit mehr als doppelt soviele Spanier in Andorra als Andorraner. Der Geist aus der Lampe

Etwas abseits der turbulenten Konsumachse Avenida Meritxell liegt einer der subversivsten Orte des Fürstentums: das Lampengeschäft des Antoni Roig. Hier, zwischen 60-Watt -Nymphen und befransten Lüstern, wird klammheimlich am Aufbau einer Gewerkschaft gearbeitet. Roig, ein schnauzbärtiger Elektriker Anfang sechzig, ist Mitbegründer des bislang noch klandestinen „Syndicat Andorran des Travailleurs“ (SAT) und zugleich Sprecher der Vereinigung der Ausländer Andorras. Unentwegt kommen „Kunden“ in den Laden, die den Chef mit Handschlag begrüßen und politischen Tratsch anbieten. Für Roig ist die EG alles andere als eine Gefahr: „Wir hoffen, daß bei den Verhandlungen nicht nur über Steuern, sondern auch über die Sozialcharta geredet wird. In Andorra sind Streiks, politische Verbände und Gewerkschaften verboten, aber Arbeitgeberverbände sind erlaubt. Das geht so nicht weiter. Wir müssen uns organisieren. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat uns bereits anerkannt.“

Andorras Regierende fürchten, so auch unser Herr Pla, „daß den Ausländern durch Gewerkschaften, in denen sie die Mehrheit haben würden, eine zu große wirtschaftliche Macht zuwachsen könnte“. Mit „Ausländer“ ist selbstverständlich auch Antoni Roig gemeint, der seit 25 Jahren in Andorra wohnt.

Arbeitslose Ausländer gibt es im Paradies Andorra keine denn sollte ein Ausländer seine Arbeit verlieren, erhält er keinerlei Unterstützung und wird - in Ermangelung eines Verdienstnachweises - prompt vor die Tür des Fürstentums gesetzt. Arbeitslose Andorraner dagegen haben Anspruch auf bevorzugte Stellenvermittlung. Ein Arbeitsgericht ist unbekannt im Staate. Noch prekärer ist die Situation für die etwa 2.000 illegalen und meist unqualifizierten Arbeitsimmigranten, die vor allem den Immobilienboom realisieren helfen. Sie erhalten, so Antoni Roig, meistens gerade die Hälfte des Mindestlohns.

Kein Wunder, daß Andorra wiederholt vom Europarat der Verletzung der Menschenrechtsdeklaration geziehen wird. Nur durch den sanften Druck der Koprinzen Monsignore Joan Marti, dem Bischof von Urgel, und Monsignore Mitterrand wurde im April die Menschenrechtserklärung formal anerkannt - ihre Anwendung jedoch dem Gutdünken der jeweiligen Ministerien anheimgestellt. Aber wie heißt es doch in dem Kapitel Andorra drückt sich aus des offiziellen Andorra -Prospekts: Es ist nicht verwunderlich, daß ein Volk, das so stark von seiner geographischen Abgeschiedenheit und von seinem Klima beeinflußt ist, an seinen Traditionen festhält, die zum größten Teil aus dem Gefühl, das die Lebensweise bestimmte, entstanden sind.

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