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Stasi-„Schnüffeln macht süchtig“

■ Zehntausende stürmen Stasi-Zentrale in Ost-Berlin / Runder Tisch unterbricht Sitzung, das Fernsehen das Programm / Opposition versuchte zu beschwichtigen

Aus den eingeschlagenen Fensterscheiben fliegen Akten und Bilder des ehemaligen DDR-Staats- und Parteichefs Honecker, das Eingangstor ist von Bauarbeitern zugemauert, draußen setzen Zehntausende zu Sprechchören an: „Stasi raus“ und „Stasi in den Tagebau“. Auf Transparenten ist zu lesen: „Strafe statt Sonderrechte“ und „Schnüffeln macht süchtig“. Aufgebrachte Demonstranten stürmen die Lager des ehemals so berüchtigten Gebäudes und stoßen auf üppige Lebensmittelvorräte.

Zehntausende von Demonstranten waren am Nachmittag dem Aufruf des Neuen Forums gefolgt, vor der Zentrale in der Normannenstraße „gegen Stasi und Nasi“ zu demonstrieren. Am Nachmittag hatte ein Bürgerkomitee zusammen mit Polizei und Militärstaatsanwaltschaft die Zentrale des Amtes für Nationale Sicherheit übernommen. Man wollte gewährleisten, daß dort nicht mehr gearbeitet wird.

Doch gegen 17.30 Uhr, nach mehrstündiger Belagerung durch die Demonstranten, gerät die Lage trotz eindringlicher Aufforderungen von Mitgliedern des Neuen Forums zu Gewaltlosigkeit außer Kontrolle. Bauarbeiter mauern das Eingangstor mit Zement und Steinen zu, während andere Fenster-und Türscheiben zertrümmern und in das Gebäude eindringen. „Jetzt kommt das Volk“, skandieren die Massen und es kommt. „Kein Stasi-Mitarbeiter soll dieses Gebäude wieder betreten“, fordern sie im Chor. „Es hat sich ausgespitzelt“ ist mit Farbe an die Wände gemalt. Einige der Redner auf dem schnell aufgebauten Rednerpult verlangen, rund um das Gebäude eine Mahnwache mit stündlicher Ablösung aufzustellen.

Die zur Demonstration eingesetzten Volkspolizisten hüten sich einzugreifen. Die Ordner des Neuen Forums mit ihren weißen Schärpen sehen dem Geschehen hilflos zu. Die Lage sei außer Kontrolle, meldet kurz darauf auch die DDR-Regierung über die Rundfunknachrichten. Das DDR-Fernsehen unterbricht wegen der bedrohlichen Geschehnisse sein Programm und mahnt zur Gewaltlosigkeit. Die junge Demokratie sei in höchster Gefahr, wird das Volk beschworen. „Unverantwortliche Kräfte“ hätten im Schutz der Dunkelheit die Stasi-Zentrale gestürmt und verwüstet.

Kurz vor sieben Uhr betritt Ministerpräsident Modrow, der eigens vom runden Tisch herbeigeeilt war, das Rednerpult und mahnt die aufgebrachten Demonstranten über Lautsprecher zur Besonnenheit. Er muß sich allerdings erst gegen ein gellendes Pfeifkonzert durchsetzen.

Schließlich übernehmen Mitglieder des Neuen Forums die Initiative. Sie blockieren die Eingänge, halten Schilder mit der Aufschrift „Keine Gewalt“ in die Höhe. Oppositionspolitiker wie der Filmregisseur Konrad Weiß von Demokratie Jetzt versuchen die Menge über Megaphon zu beschwichtigen. Erst nach einer Stunde mit Erfolg: Die Leute verlassen langsam das Gebäude, draußen versucht eine Menschenkette, die Eingänge zu sichern. Die Demonstration löst sich langsam auf.

dpa/ap/kd/anb

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