Larmoyanz ist fehl am Platz

Die DDR-Sozialdemokraten, das geplatzte Wahlbündnis und die Chance der Restopposition  ■ K O M M E N T A R

Die Sozialdemokraten der DDR haben auf ihrem publicityträchtigen Spektakel am Wochenende die denkbar billigste Lösung gewählt. Der geballte Auftritt der sozialdemokratischen Westprominenz, mit dem die junge Partei das wählerwirksame Profil zeigte, das sie aus eigener Kraft bislang nicht entwickeln konnte, hätte die ansonsten farblose Versammlung zumindest irritieren müssen. Doch für die peinliche Diskrepanz zwischen westlich-professionellen Charismatikern und östlichen Politamateuren fehlte der saturierten Versammlung jegliche Sensibilität. Statt dessen ließ sie sich euphorisieren und sonnte sich in der geborgten Tradition. Vierzig Jahre verfemt, verschafft sie auch den ehemals Angepaßten unter den Neu-Politikern die Aura des Dissidententums und garantiert ihnen zugleich die programmierte Teilhabe an der Macht. Denn daß nach dem 6.Mai der Weg zur Regierungsübernahme an der SPD vorbeiführen könnte, ist kaum anzunehmen.

Doch auch diejenigen SPD-Politiker, die mit ihrer jahrelangen oppositionellen Arbeit über den Verdacht selbstgerechten Opportunismus‘ erhaben sind, müssen sich fragen lassen, warum sie sich den Bruch des oppositionellen Wahlbündnisses widerspruchslos von der Mehrheit aufzwingen ließen. Denn ob die Aufkündigung der vielbeschworenen „oppositionellen Solidarität“ im Interesse der parteipolitischen Profilierung am Ende der gesamten Demokratiebewegung zugutekommt - wie die Befürworter des Alleingangs jetzt glaubhaft machen wollen - bleibt fraglich. Eine starke, aber nicht mehrheitsfähige Sozialdemokratie könnte am 6.Mai ohne relevante Bündnispartner dastehen und damit ihr einfallslos-einziges Wahlziel - die Entmachtung der SED - verpassen.

Doch der zurückgelassenen Restopposition bleibt keine Zeit für larmoyante Repliken. Die SPD hat am Wochenende das Tempo für die notwendige Ausdifferenzierung des diffusen, oppositionellen Spektrums vorgegeben. Daß die SPD ihr Profil nur über die große Schwester aus dem Westen zu gewinnen glaubt, ist für diejenigen, die ihre eigene Identität aus der erzwungenen Revolution der letzten Monate herleiten, auch eine Chance. Der seit dem Wochenende erheblich gewachsene Zwang zur inhaltlichen und organisatorischen Profilierung könnte zugleich die Initialzündung für die politische Organisation des links-alternativen Spektrums werden, das in der sozialdemokratischen Vision nicht aufgeht.

Das Neue Forum, die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, die Initiative „Frieden und Menschenrechte“ und die Grüne Partei müssen sich fragen lassen, welche programmatischen Differenzen die Spaltung in eigenständige Organisationen noch rechtfertigt. Denn die oppositionelle Vereinsmeierei und die lähmenden internen Statutdebatten erscheinen merkwürdig deplaziert angesichts der Herausforderungen der Systemreform, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit reichlich Verantwortungspathos beschworen werden. Die politische und organisatorische Konzentration der Demokratiebewegung ist überfällig. Wenn das SPD-Spektakel vom Wochenende diesen Prozeß anschiebt, ließe sich auch der Abgesang auf das gemeinsame Wahlbündnis verschmerzen.

Matthias Geis