: Machtzuwachs für das Militär
Gorbatschow gerät mit dem Bürgerkrieg im Kaukasus unter Druck ■ K O M M E N T A R E
Immer wieder tauchten sie auf, die Gerüchte über die Entmachtung Gorbatschows. Die Nummer eins ist schon bisher von drei Seiten unter Druck geraten. Erstens gibt es sie weiterhin, die Widerstände aus dem Apparat, die Zähigkeit der Bürokratie, die sich durch die konsequente Fortsetzung der Perestroika in ihrer Existenz bedroht sieht. Da diese Gruppe angesichts der Nationalitätenkonflikte und Erosionserscheinungen zunehmend als Anwalt der imperialen Interessen des Gesamtstaates auftritt, hat sie bei russisch -nationalistischen Strömungen in der Bevölkerung und bei den aus russischen Einwanderern bestehenden Interfronten in den Randrepubliken wieder an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen. Zweitens wächst auch die Kritik an Gorbatschow von jenen, denen das Tempo der Umgestaltung zu langsam geht. Der Perestroika von oben müßten so schnell wie möglich, auch in Rußland selbst und nicht nur in den Randrepubliken, Beine von unten zuwachsen. So lautet nicht nur die Kritik eines Boris Jelzin, sondern zunehmend auch die der Reformer aus der nächsten Umgebung Gorbatschows. Dieser Strömung gehört nicht nur die oppositionelle Gruppe im Obersten Sowjet an, sondern all jene, die unter den schwierigsten Bedingungen in Moskau, Leningrad und anderen Städten Rußlands volksfrontähnliche Organisationen oder Parteien aufbauen und die Demokratisierung von unten betreiben wollen. Und drittens ist Gorbatschow selbstverständlich zur Zielscheibe für die national-demokratisch ausgerichteten Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen Ländern, aber auch in Bjelorußland, Moldawien und in der Ukraine geworden, die in ihm nur noch den zentralistischen Machthaber des sowjetischen Imperiums sehen wollen.
Auch wenn es Gorbatschow angesichts dieser Konstellation immer wieder gelang, als Vermittler zwischen den widerstreitenden Tendenzen aufzutreten und seine Position zu festigen, der Preis für seine zentristische Politik war die Aufschiebung wichtiger Entscheidungen. Gerade im Kaukasus wurde durch die Moskauer Unentschlossenheit die Stimmung nur noch angeheizt. Wenn jetzt die politischen Mittel zur Lösung dieses Konflikts versagen, wenn Gorbatschow hier nicht mehr in der Lage ist, vermittelnd einzugreifen, schlägt die Stunde der Militärs. Noch sind es primär die Spezialtruppen des Innenministeriums, die im Kaukasus eingesetzt sind. Doch schon bald könnte eine militärische Intervention letzter Ausweg sein. Auch wenn sich die Militärs in der Geschichte der Sowjetunion immer der politischen Führung unterwarfen und selbst während der stalinistischen Säuberungen loyal geblieben sind, wird die Versuchung für sie wachsen, angesichts der heutigen Lage als Garant der staatlichen Integrität und als Ordnungsmacht aufzutreten. Ein zukünftiges Zusammenspiel von Konservativen und Militärs in der UdSSR ist nicht mehr auszuschließen. Und dies würde tatsächlich den Sturz von Gorbatschow bedeuten.
Erich Rathfelder
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