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Kararao - die Kriegserklärung am Amazonas

■ Eine kompetente und engagiert geschriebene Publikation über den folgenreichen Raubbau in Amazonien / Warum hängt das Faultier so faul im Baum? Wovon lebt der Kolibri? / Ein (Rück-)Blick auf den ökologischen Kreislauf des Regenwaldes

Wer irgendwann einmal Rudyard Kipling gelesen hat, erinnert sich vielleicht noch an seine lustige Geschichtensammlung Das kommt davon. Da werden sehr phantasievoll so wichtige Fragen geklärt wie die, woher die Giraffe ihren langen Hals, der Elefant seine lange Nase und der Tiger seine Streifen hat. Meistens haben die Tiere irgend etwas angestellt und erhalten dafür ihre Strafe. Auch in einem neuen Buch der „Gesellschaft für ökologische Forschung“ erfährt man einiges darüber, warum Tiere so sind, wie sie sind. Im Unterschied zu Kipling aber ist es nicht die Phantasie eines Schriftstellers, sonder die der Natur, die da ihre Purzelbäume schlägt. Und es sind auch nicht die Tiere, die etwas angestellt haben, sondern die Menschen. Die Strafe steht noch aus, und mit einer langen Nase oder Streifen wird die Sache nicht ihr Bewenden haben.

Das Buch könnte gut Das kommt davon heißen, es heißt aber sachlich dramatisch Amazonien - Ein Lebensraum wird zerstört, es ist sachlich und dramatisch, und das Beste an ihm ist, daß es - zumindest in weiten Teilen - anschaulich, interessant und engagiert geschrieben ist. Das ist bei Limnologen und Berufsökologen nicht eben eine Selbstverständlichkeit. Genausowenig, wie es bei jenen, die seit Jahr und Tag gegen die Zerstörung des Regenwaldes protestieren, selbstverständlich ist, daß sie immer den ökologischen und limnologischen Durchblick haben. „Das kommt davon“ hat eine wissenschaftliche wie eine moralische Konnotation. Weder um das eine noch um das andere werden wir uns herumdrücken können. Das Buch der Öko-Raben bringt Kompetenz und Engagement endlich mal zusammen.

Daß der Regenwald in unglaublichem Tempo abgeholzt, gerodet, besiedelt und zerstört wird, hat sich inzwischen herumgesprochen. Nach vorsichtigen Berechnungen sind es 200.000 Quadratkilometer, die jährlich den Tropenwaldvernichtungsorgien zum Opfer fallen - ein Gebiet annähernd so groß wie die BRD. Auch das ist bekannt, und allenthalben schallen Klagegesänge in den schwindenden Wald. Wer aber weiß, daß Kolibris in Amazonien von den Ausscheidungen der Schildläuse leben? Von überschüssigem Zuckerwasser, das die in der Rinde von Bäumen sitzenden Läuse als Exkrement über haarfeine, vom Baum absterbende Wachsröhrchen abgeben, und das die Kolibris bei ihrem merkwürdigen „Fahrstuhlfahren“ am Baum entlang dann abschlecken. Wer weiß, daß die Faultiere deswegen so bewegungsfaul sind, weil sie sonst von den Ameisen gebissen würden, die auf demselben Crecropia-Baum leben, dessen Blätter den Faultieren so lecker schmecken? Und wer kennt das „Stillhalteabkommen“, das eine andere Faultierart mit bestimmten Schmetterlingen der Marke Cryptoses choloepi abgeschlossen hat, die im Fell dieser Faultiere leben und ihre Eier in deren Exkremente legen?

Das sind nur ein paar Beispiele aus dem wohl spannendsten Aufsatz des Bändchens, in dem der Münchner Ökologe und Zoologe Reichholf das ausgetüftelte Ökosystem Amazoniens beschreibt. Allein der Artenreichtum in Flora und Fauna macht die „grüne Hölle“ bei genauerer Betrachtung zu einem „grünen Paradies“. Auf einem Hektar in Zentralamazonien kann man 500 Baumarten finden, mehr als in ganz Nordamerika. Bei den Insekten geht die Artenvielfalt in die Millionen. Und doch trifft man am Amazonas auf ein Phänomen, das der ebenfalls im Buch vertretene Limnologe Fittkau als „Armut in der Fülle“ bezeichnet hat: Abgesehen von Ameisen und Termiten kommen die meisten Tiere nur sehr selten vor, das heißt, die Siedlungsdichte ist äußerst gering. Zwei bis drei Aras auf 100 Quadratkilometer, da hat schon so mancher Urwaldtourist eine Schnute gezogen, weil er am falschen Ende stand.

Genau dieses Phänomen der Seltenheit bei überwältigender Vielfalt macht Reichholf zum Ausgangspunkt seiner Analyse des Ökosystems. Und er kommt über eine Reihe höchst interessanter Beobachtungen und Überlegungen zu dem Ergebnis, daß Amazonien eines der am besten geschlossenen Großökosysteme der Welt darstellt. Kolibri und Schildlaus, Faultier und Schmetterling sind mit ihrem merkwürdigen Lebensstil Belege für den Mangel an Nährstoffen in Amazoniens Böden. Der weitaus größte Teil der Nährstoffe ist nicht im Boden oder Regenwasser, sondern in der Biomasse des Waldes selbst. Der Regenwald steht zu großen Teilen auf chemisch reinem Sand. Das aber heißt: Der Wald erhält sich selbst, muß sich selbst erhalten. Humus wird nicht ausgebildet. Die lebenswichtigen Nährstoffe werden mit einem gigantischen Filtersystem in der Biomasse gehalten, kaum etwas geht verloren. Es ist die Vielfalt, die riesige Zahl unterschiedlicher Lebensformen von Pflanzen und Tieren, die den Närstoff-Fluß aufrechthält und alles in die großen Kreisläufe zusammenfügt. Die Fülle der Arten und Differenzierungen ist die Antwort auf die Armut an Nährstoffen.

Und noch eine Erkenntnis liefert uns Reichholf: Was der Regenwald an zusätzlichen Nährstoffen trotz allem noch braucht, kommt aus der Luft. Die mineralischen Nährstoffe werden dabei nach neueren Vermutungen über den Passat aus der Sahara herangeführt. Auch hierbei ist der Wald wiederum ein Filter, der sich dieser Quelle entgegenstreckt und sich aus dem Regenwasser die angewehten Nährstoffe holt.

Was bedeutet das alles im Kontext der Regenwaldzerstörung oder der versuchten Umwandlung in landwirtschaftliche Nutzfläche? Schließlich haben, wie Reichholf zu bedenken gibt, andere Völker in anderen Räumen nicht ohne Erfolg die Natur verändert und Produktionslandschaften aus ihr gemacht. Die Antwort liegt auf der Hand: Aus dem geschlossenen Kreislauf Amazoniens ist landwirtschaftlich fast nichts herauszuholen. Amazonien ist für die Großflächenwirtschaft unergiebig. Noch schlimmer: Die Umwandlung bedroht das gesamte Ökosystem, führt zur grünen Wüste. Es dauert Jahrhunderte, bis sich derart gerodeter Urwald wieder entwickelt. Ebenso verheerend wirkt sich natürlich auch weiträumiges Abholzen oder die Errichtung industrieller Zentren im Urwald aus. Der Fall des entstehenden „brasilianischen Ruhrgebiets“ Carajas wird im Buch beschrieben. Nur wer sich, wie es die indianischen Kulturen mit ihrer „shifting cultivation“ tun, in die Kreisläufe einfügt, kann auf Dauer überleben, ohne zu zerstören. In ihrer Diversität und geringen Siedlungsdichte gleichen diese Stämme den einsamen Aras.

Aber wie der Naturreichtum sind auch die Indianer und all jene Siedler, die bis heute im Einklang mit der Natur Amazoniens leben, bedroht. Ein weiterer Abschnitt des Buches beleuchtet die Lage dieser Menschen und dokumentiert ihren Widerstand, wie etwa den Kampf der Indianer am Xingu. Dort soll ein Riesenstaudamm für das größte Wasserwerk der Welt gebaut werden. „Kararao“ soll es heißen. Was die Planer, die diesen Namen ersannen, offenbar nicht wußten: In der Sprache der dort lebenden Kaiapo-Indianer bedeutet Kararao: Wir erklären den Krieg.

Um diesen Krieg gegen den Regenwald und seine Bewohner geht es im letzten Abschnitt des Buches. Beispiele aus Brasilien beleuchten den Wahnwitz der Zerstörung, zeigen aber auch, in welchem Maße internationale „Entwicklungs„-Projekte und unverhüllte Geschäftsinteressen reicher Länder daran mitbeteiligt sind: Erzgewinnung, Stauseeprojekte, Tropenholz. Bis jetzt zahlen die Tropenländer die ökologischen - und sozialen - Folgekosten des Raubbaus noch allein.

Die „Umweltverträglichkeitsprüfungen“, von denen bei den großen Projekten immer geredet wird, sind bis heute nicht viel mehr als ein Mäntelchen, unter dem der Kahlschlag munter weitergeht. Ein Abwenden der endgültigen, irreparablen Katastrophe ist nicht in Sicht. „In der Dritten Welt wird sich nichts ändern, wenn sich in den Industrieländern nichts ändert“, sagt Jose Lutzenberger, Mitarbeiter der brasilianischen Umweltorganisation „Agapan“. Es gilt auch der Umkehrschluß: In der Dritten Welt wird sich erst etwas ändern, wenn sich in den Industrieländern etwas ändert. Es ist zu befürchten, daß es mit dem Klima anfängt. Das kommt davon.

Thomas Pampuch

Gesellschaft für ökologische Forschung (Hrg.): Amazonien Ein Lebensraum wird zerstört. Raben Verlag, München 1989, 216 S., DM 24,00.

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