Der Künstler als Trittbrettfahrer

■ Lion Feuchtwangers dramatischer Roman „1918“, inszeniert von Einar Schleef am Schauspiel Frankfurt

Marie-Luise Bott

Frühjahr 1918, der Erste Weltkrieg steht kurz vor seinem Ende: 1,8 Millionen Gefallene und 4,2 Millionen Verwundete allein auf deutscher Seite. Die Begeisterung, mit der so viele deutsche Künstler des Expressionismus in den Krieg zogen, ist länst gebrochen. Das Erleben eines heillosen, nur für die deutsche Wirtschaft gewinnbringenden Mordens hatte den Blick auf die soziale Wirklichkeit verändert. Im Münchner Militärgefängnis sitzt Ernst Toller, 24 Jahre, und beendet sein Drama Die Wandlung. In seiner Wohnung in der Georgenstraße sitzt Lion Feuchtwanger, 35 Jahre, und beginnt sein Drama Thomas Wendt.

Da schreibt der 24jährige Dichter Thomas Wendt ein Drama über den Sklavenaufstand und seinen am Kreuz sterbenden Anführer Spartakus. Doch Thomas Wendt will mehr. Er will, daß seine Worte endlich Taten werden und mehr Gerechtigkeit in die Welt kommt. Er will es ehrlich und selbstlos. Aber er verkennt die Interessen anderer. Er verstrickt sich in seiner blinden, reinen Menschenliebe und belädt sich mit Schuld.

Das Mädchen Annemarie war vom Großindustriellen Schulz verführt worden und hatte Lebensekel. Thomas zieht sie aus dem Wasser. Er hält Schulz eine Moralpredigt. Annemarie bleibt bei Thomas, begreift aber nicht, was der von ihr will. Sie mag nicht mit sich herumexperimentieren, sich „formen“ lassen. Dann doch lieber zum Großkapital, das nur das eine von ihr will. Inzwischen wird Thomas‘ Drama gefeiert. Er verkehrt bei dem Kunstmäzen Heinsius und dessen schöner Frau Bettina. Aber der Erfolg ekelt ihn an. Nicht das hatte er mit seinem „Sklavenkrieg“ gewollt. Kapital und Regierung verständigen sich unterdessen über Weltkrieg Eins, Parole: „beleidigtes Nationalgefühl“.

Thomas verläßt die schöne Kunst und macht eine sozialistische Zeitung. Ein Redakteur kommt dabei zu Tode. Von Thomas aufgewiegelte Arbeiter bestreiken den Fabrikanten Heinsius und blenden dessen Frau Bettina. In Liebe zum Bruder Mensch zieht Thomas in den Krieg. Heinsius liiert sich mit Annemarie. Thomas erkennt die Sinnlosigkeit des Krieges und macht Hals über Kopf Revolution. Schulz finanziert. Der Freund Christoph wird erschossen, Heinsius von Soldaten zu Tode mißhandelt. Und Thomas feiert den bitteren Sieg der Revolution. Schulz allein hat gute Geschäfte gemacht. Thomas dankt ab. Schulz wird Präsident der neuen Republik.

Am Ende ist also das Gegenteil von dem erreicht, was Thomas gewollt hatte. Wäre er doch bei seinen Leisten, der Dichtkunst, geblieben und hätte sich um die Wirklichkeit nicht weiter geschert? „Bilde, Künstler, rede nicht“? Verhängnisvolles Entweder-Oder der Deutschen. Feuchtwangers „Daß der Handelnde niemals Gewissen hat, sondern nur der Betrachtende“ ist eine falsche Alternative. Aber er entwarf ein gutes Stück mit den richtigen Fragen und hervorragend realistisch begriffenen Figuren. Feuchtwanger beendete sein Drama noch vor dem blutigen Ende der Münchner Räterepublik im April 1919. Thomas Wendt oder1918, wie es in einer späteren Fassung heißt, wurde nur einmal 1924 in einer gekürzten szenischen Lesung aufgeführt. Eine Münchner Inszenierung wußten die Kapp-Putschisten 1920 zu verhindern.

Das Stück wiederentdeckt zu haben ist das Verdienst des Regisseurs Einar Schleef, der 1976 aus der DDR in den Westen kam. Zuletzt hatte er für das Frankfurter Schauspielhaus Goethes Ur-Götz inszeniert: Ein Raubritter, der Schriftsteller wurde. Nun also in derselben Spielstätte, dem Bockenheimer Depot, und in derselben Raumaufteilung 1918, die Umkehrung des Vorgangs, wie Schleef es in einem Gespräch mit der taz beschreibt: ein Schriftsteller, der zum Revolutionär wird. Die Entscheidung für das Stück fiel im Frühjahr 1989, alsovor dem Aufbruch in Deutschland-Ost. Ausschlaggebend waren dabei Besetzungswünsche und weniger das Thema „Revolution in Deutschland“, sagt Schleef. Die Ereignisse in der DDR hätten die Probenarbeit nicht weiter beeinflußt. Schade. Wozu dann Theater?

In Schleefs Bühnenbild, dem 45 Meter langen Steg durch den ganzen Zuschauerraum hin und dem aufsteigenden Halbrund auf der hochgelegenen Empore am Ende, gibt es ein klares Oben und Unten. Oben - die Visionen, das Kapital, der Salon. Unten - der Schreibtisch des Schriftstellers, das arbeitende Volk, die Schieber, der Krieg. Aber dann gerät alles durcheinander. Oben sitzen also Schulz & Co. (Thomas Thieme kostet mit Recht seinen fabelhaften Text aus) und erwarten die Revolution wie ein Schauspiel aus der Theaterloge - ein stimmiges Bild. Aber es ist Unsinn, wenn die revolutionären Massen - bei Schleef ein Chor von Frauen - auf eben derselben Empore in der ersten Reihe sitzen und ihre Sprechchöre skandieren. Es sei denn, man wollte damit sagen, sie hätten von vornherein nichts anderes im Sinn gehabt als ihre Verbürgerlichung.

Die Rolle der Bettina hat Schleef mit einer knabenhaft schlanken, weißhaarigen großen alten Dame besetzt. Es ist Joana Maria Gorvin, Witwe des Regisseurs Jürgen Fehling, die mit der Expressionistengeneration sozusagen großgeworden ist. Thomas‘ Liebesbeziehung zu Bettina wird so eine mütterliche. Wenn Bettina sich dann gebeugt und geblendet über den langen Steg zur Empore hin vortastet und sagt: „Und er schreibt vom Kreuz“, so ist das aus dem Mund der alten Frau eine um so schwerwiegendere Anklage gegen Thomas. Der nimmt bald militärisch-stramm Abschied von Bettina. Während sie ihm noch nachsagt: „Ich glaube an den Menschen“, fällt blutrotes Licht über die vielen Holzkreuze unten. Es herrscht Krieg. Der Steg wird zur Via dolorosa.

Als diese Frau den langen, von Kreuzen gesäumten Weg entlanggeht und jeden darunterliegenden Soldaten leise fragt: „Sind Sie von den deutschen Kriegsgefangenen?“, da hat der lange Abend für mich seinen einzigen anrührenden Moment. Der aber erweist sich als Irrtum. Frau Gorvin macht diesen Gang nicht mehr als Bettina, sondern schon als „der Archäologe“. Und nun muß diese wunderbare Frau den Text eines Geschichtszynikers hersagen. Ein unmotivierter Rollenwechsel zerbricht die Aura dieser Figur.

Figurenpsychologie interessiert Schleef bei seiner Arbeit nicht. Er inszeniert typisierte Gruppen und Gestalten. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn es denn ein klar ersichtliches Bedeutungsgefüge gibt, in dem sich die Schauspieler bewegen. Aber Schleef hat kein „Konzept“. Er inszeniert immer treu am Text entlang, ohne eigenen klaren Standpunkt (der ihn auch einmal mutig kürzen lassen könnte). Und so dauert diese Aufführung eben vier Stunden lang, und so ergeben sich viele Brüche.

Manchmal aber kommt unvermutet doch noch die eigene Wahrheit einer Figur zum Vorschein. Zum Beispiel bei Annemarie. Thomas verkennt das Volk im großen ganzen und dieses Mädchen im besonderen. Seine Liebesbeziehung zu ihr ist kein Thema in dieser Inszenierung. Ihre Dialoge miteinander haben sie in der Regel aus 50 Meter Entfernung aufzusagen und öden sich da mit blutleeren Worten an. Annemarie (Signe Ibbeken) schleppt entweder ein gigantisches schwarzes Pelzcape wie die Madonna von Raffael mit sich oder steht im Nachthemdchen, das Geld anbetend, auf der Empore. Tritt diese auf den Kopf gestellte Marianne der Revolution dann aber mit Beil und blutrotem Halstuch zu Thomas‘ Revolutionsfeier hinzu und klagt: „Machst du wieder Worte?“, so hat sie unsere volle Sympathie.

Die Revolutionsfeier oben auf der Empore ist bei Schleef ein paradiesischer Ringelreihen in des Kaisers neuen Kleidern. „Wer hätte geglaubt, daß das Glück so leicht ist!“ Und mit laut gezähltem „Eins, zwei, drei!“ zum nächsten Platzwechsel. Der pure Kitsch narrt Zuschauer wie Akteure. Darauf angesprochen, antwortet Schleef entwaffnend: „Aber so ist es doch! So wird doch auch Glück immer verordnet. Und so laufen diese Revolutionsfeiern ja ab, egal wo!“ Die von oben verordneten, das mag sein. Und vielleicht dachte sich so auch Erich Honecker seine Jubelfeier zum 7.Oktober. Aber die Revolutionsfeste nach dem 9.November hatten, denke ich, eine andere Qualität und auch eine andere Form.

Schleef inszenierte - noch einmal - ein Antikriegsstück und weniger ein Revolutionsstück. So entschied er sich auch für die erste Fassung von 1918; wegen der Sprache, sagt er: „Die alten Ausdrücke, wo auch das Wort 'Seele‘ vorkommt, fand ich eben doch besser.“ Dabei ist Feuchtwangers zweite Fassung keineswegs die „harmonisierte“, sondern diejenige, die Thomas Wendt in noch schärfer zugespitzte Situationen verwickelt, um die leidvollen Widersprüche dieser Figur noch gnadenloser hervorzutreiben. Schleef aber macht aus Thomas Wendt (nach besten Kräften gespielt von Martin Wuttke) einen von keinerlei ironischer Distanz gebrochenen Märtyrer, glaubt, auch das „einfach aus den Szenen heraus“ lösen zu müssen, arbeitet auch da vor allem an einer rhythmisch -musikalisch gesprochenen Sprache. Aber das ist zuwenig. Die Szenen mit Thomas Wendt und dem Volk (glänzend: der Soldatenchor „Jetzt werden wir leben!“) wirken nicht ineinander, sondern laufen immer folgenlos auseinander. „Daß der Künstler keine Beziehung zum Volk hat, ist doch klar! Das Volk gibt's ja auch für den gar nicht!“ sagt Schleef bitter. „Das ist doch jetzt in der DDR ganz klar. Da gibt es jetzt die Trittbrettkünstler, die auf das, was da auf der Straße passiert ist, einfach aufspringen. Und dann ihre alten Posten und Privilegien neu einklagen. Und alles nur dadurch wieder neu legitimieren. Ja, die sind doch nicht auf die Straße gegangen!“

So endet seine Inszenierung von 1918 auch - anders als bei Feuchtwanger - in Dichterkrönung und Heldenverehrung, wobei eine riesige Deutschlandfahne über alle liegengebliebenen Probleme gebreitet wird. „So ist es ja auch! Ich kann mich doch von den Dingen, die dort passieren, nicht distanzieren, indem ich sie ironisch zeige. Das ist doch unsere Wirklichkeit! Das findet ja statt!“ Ich komme mit „dort“ und hier nicht ganz zurecht. Die Münchner Revolution von 1918 nahm ein Ende in Schrecken. Ihre Dichter (Gustav Landauer, Erich Mühsam, Kurt Eisner...) wurden ermordet, nicht gekrönt. Der Nationalismus allerdings verbreitete schon damals seinen Pesthauch. Aber die historische Perspektive der Revolution von 1989 ist noch offen. Da hätte auch das Theater eine Chance.