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Nach der Mauer fällt auch ein hohles Berliner Ritual

Berliner Abgeordnetenhaus schaffte Mahnworte zur Wiedervereinigung ab  ■  Aus Berlin Brigitte Fehrle

Das Berliner Abgeordnetenhaus hat am Donnerstag symbolisch nachvollzogen, was seit dem 9. November Realität ist. Ab sofort werden die Sitzungen des Parlaments nicht mehr mit den sogenannten „Mahnworten zur Wiedervereinigung“ eröffnet. Alternative Liste und Sozialdemokraten ließen mit ihrer Mehrheit die Formel ersatzlos streichen.

“...und bekenne unseren unbeugsamen Willen, daß die Mauer fallen und daß Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden muß.“ So wird seit 1955 - der Passus mit der Mauer kam 1962 hinzu - die Sitzung des Berliner Parlaments eröffnet. Es war Willy Brandt, der als Präsident des Abgeordnetenhauses der auch damals unsicher in die Zukunft blickenden Stadt das pathetische Bekenntnis zu Beginn jeder Sitzung zum ersten Mal sprach. Jahrzehntelang war die Formel unumstritten, bis am 25. März 1982 Alexander Longolius (SPD) in seiner Eigenschaft als Vizepräsident die Mahnworte zur Wiedervereinigung nicht mehr sprach. Die Worte würden nicht ausreichend die neue Entwicklung in und um Berlin wiedergeben, hatte er damals seine Weigerung begründet. Nach seinem Vorschlag sollte nicht mehr der Zwang zur Wiedervereinigung, sondern die Selbstbestimmung und das Bekenntnis zu Europa die Formel füllen, „dem Frieden in Europa zu dienen und die Selbstbestimmung aller Völker zu fördern, damit auch Deutschland und Berlin ihre Einheit in Freiheit vollenden können“.

Doch wie bei der Wiedervereinigungsdiskussion des Jahres 1989 war die SPD auch damals zerstritten. Hans-Jochen Vogel, Fraktionsvorsitzender nannte den Vorschlag von Longolius zurückhaltend „interessant“. Vorschläge aus den Reihen der Berliner Sozialdemokraten, die das Wort „Einheit“ gänzlich aus der Formel streichen oder gar die Worte aus der Zeit des kalten Krieges gänzlich streichen wollten, waren damals nicht mehrheitsfähig. Sein Kollege Sickert war deutlicher. Sein Urteil: „Absolut falsch.“ Schon damals ging ein Aufschrei durch die Reihen der Christdemokraten. Die Formel sei für sie kein „Ritual, sondern eine ernsthafte politische Aussage“.

Der damalige und heutige Fraktionsvorsitzende Eberhard Diepgen war es, der den Riß, der durch die sozialdemokratische Fraktion ging, schürte und hoffte, der Vorstoß von Longolius sei ein „Allein gang“.

Ganze sieben Jahre war es ruhig um die Formel. Bis zum Mai 1989. Als zum ersten Mal die Vizepräsidentin Hilde Schramm, Mitglied der Alternativen Liste, die Sitzung eröffnen sollte, weigerte sie sich, die Worte zu sprechen. Begründung: Sie widersprächen der täglichen Politik, die auf Akzeptanz der Zweistaatlichheit beruhte. Tumultartige Szenen spielten sich ab, die CDU forderte den Rücktritt von Frau Schramm. Hilde Schramms Provokation zeitigte keinen Erfolg. Die Formel blieb. Allerdings war seit dem 9. November Parlamentspräsident Wohlrabe (CDU) der einzige, der noch bereit war, die Formel zu sprechen. Die zweite Vizepräsidentin Marianne Brinkmaier (SPD) wollte angesichts der offenen Grenzen den Fall der Mauer auch nicht mehr beschwören.

Am 22. Februar wird die Sitzung des Abgeordnetenhauses ganz profan, ohne Formel und - glaubt man dem CDU Faktionsvorsitzenden Diepgen - „im Widerspruch zu den Interessen aller Berliner“ eröffnet werden.

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