Rafsandschani fürchtet Separatismus im eigenen Land

„Heute führt der Westen mit seiner Propaganda die Kremlführung zu weiteren Massakern und belebt die vergangenen unterdrückerischen Strukturen in den Moslemrepubliken der Sowjetunion.“ Für die iranische Zeitung 'Islamische Republik‘ ist der Westen auch für die Toten von Baku verantwortlich. Typisch für die Haltung der 'Islamischen Republik‘. Noch Stunden vor dem Einmarsch der Sowjettruppen in die aserbaidschanische Stadt war für den Fall eines militärischen Vorgehens der Kremlführung mit drohendem Unterton ein „Steppenbrand“ unter den 50 Millionen Moslems und deren einer Milliarde Glaubensbrüder und -schwestern in der Welt vorhergesagt worden. Als es dann soweit war, gab es nur eine Verurteilung und die Forderung nach einem iranisch-sowjetischen Gipfeltreffen. Iran ist hin - und hergerissen. Die Radikalen möchten gern die moslemischen Teile der aserbaidschanischen Volksbewegung im Nachbarland stützen. Die moslemische Separatistenbewegung dient ihnen als Beweis für die Ausstrahlung des Islam. Diesen Radikalen sind die Auswirkungen auf die iranische Politik erst einmal nicht wichtig. Staatspräsident Rafsandschani hat sich bisher zurückgehalten. Ein Bündel von Motiven dürfte den Pragmatiker im Mullahgewand zu dieser Zurückhaltung bewegen. Sicherlich soll das seit einem Jahr verbesserte Verhältnis zu Moskau nicht über Gebühr belastet werden.

Doch treibendes Motiv für die Zurückhaltung des offiziellen Teherans dürfte die Sorge vor den Auswirkungen eines zunehmenden Nationalismus der Aserbaidschaner im eigenen Land sein. Denn das Turkvolk stellt mit zehn Millionen Menschen etwa 20 Prozent der Einwohner Irans.

1945 hatten linke aserbaidschanische Nationalisten die Besetzung von Iranisch-Aserbaidschan genutzt, eine demokratische Republik auszurufen. Nach dem Rückzug der Sowjettruppen brach die Republik unter dem Ansturm der Truppen des Schah zwar schnell zusammen. Aber der Versuch der Lostrennung von Teheran war Zeichen für das starke Nationalgefühl der Aserbaidschaner.

Dabei ist jedoch auch heute nur eine kleine Minderheit für eine Abtrennung vom Iran. Die Aseris sind nicht unterdrückt wie die Kurden. In ihrer Hauptstadt Taebris gibt es eine Universität. Und die Basare in den großen Städten Irans werden von Aserbaidschanern kontrolliert.

Auch auf der politischen Bühne sind die Aseris nicht diskriminiert. Sie stellen Minister und können die Politik in Teheran beeinflussen. Ein aktuelles Aserbaidschanproblem gibt es im Iran nicht. Die in Westiran gelegenen Provinzen gehören seit Jahrhunderten zum persischen Reich, und Mitglieder aserbaidschanischer Fürstenfamilien stellten sogar schon persische Herrscher. In Iranisch-Aserbaidschan selbst leben nur etwa die Hälfte der Aseris. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts sind viele von ihnen nach Teheran oder in die anderen Großstädte des Landes gezogen. Dort gibt es ganze Aserbaidschanerviertel.

Das Gefühl der Aserbaidschaner, zum Iran zu gehören, ist daher stark entwickelt. Eine selbständige Republik Aserbaidschan als Abspaltung von der Sowjetunion könnte dies jedoch ändern. Die gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der islamischen Republik bilden einen idealen Nährboden für separatistische Bestrebungen unter den Aserbaidschanern im Iran. Aber auch ein Anschluß der sowjetischen Aseris an Iran im Falle des Zerfalls der Sowjetunion hätte unkalkulierbare Auswirkungen auf die Politik in Teheran. Die Aseris könnten zur dominierenden Kraft in der islamischen Republik werden. Forderungen nach kultureller Autonomie wären dann nicht mehr abzuwehren. Kurden, Arabern, Belutschen, Loren und Turkmenen müßte gleiches gewährt werden. Iran als zentralistischer Staat würde zur Disposition stehen.

So ist die Zurückhaltung der Spitzenpolitiker zu den Vorfällen im sowjetischen Aserbaidschan entscheidend von Eigeninteresse geprägt. Darüber können auch radikale Zeitungsartikel in den vergangenen Tagen nicht hinwegtäuschen.

ie Radikalen werden sicher versuchen, Rafsandschani wegen seiner Zurückhaltung zu kritisieren. Aber wie auch bei anderen Fragen sind sie deutlich in der Minderheit.

Die Bevölkerung der iranischen Zentralprovinzen ist gegen jede Grenzveränderung. Beim Kampf gegen die Kurden ist der größte Teil der Bevölkerung Teherans den Mullahs gefolgt. Und die Entschlossenheit, die Grenze gegen irakische Angriffe zu verteidigen, erfolgte aus demselben Motiv. Den Menschen ist bewußt, daß Grenzänderungen dem Lande schnell gefährlich werden können.

Die Ölvorkommen liegen im Süden des Landes in der auch von Arabern bewohnten Erdölprovinz Khusistan. Und ein Iran ohne Erdöl ist bis auf weiteres nicht lebensfähig. Das wissen die Mullahs genauso gut wie deren Gegner. Diese Einsicht gebietet gemeinsame Zurückhaltung in der Aserbaidschanfrage. Radikale Kritiker an der Zurückhaltung werden sehr schnell in die Isolation geraten.

Walter Gebhard