Mit dem Nahverkehrszug auf den grauen Markt

■ Tausende Arbeitspendler aus Ost-Berlin drängen Tag für Tag in die Westberliner Schattenwirtschaft

Wenn heute West-Berlins Wirtschaftssenator Mitzscherling den Präsidenten des Landesarbeitsamtes, den Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes Berlin sowie einige Spitzen der Wirtschaft zu einer Besprechung empfängt, pendeln zur gleichen Zeit viele OstberlinerInnen über die offene Grenze

-noch gibt es kein grundsätzliches Verbot der nichtversicherungspflichtigen Arbeit für DDR-Bürger. Das politische Klima hierzulande wird jedoch rauher, die DDR droht mit Paßentzug im Falle „entgeltlicher Tätigkeit im Ausland“.

An jedem zweiten Nachmittag eilt Gisela W. durch den Grenzübergang Sonnenallee nach Neukölln, setzt sich in den bereitstehenden Bus, steigt um in die U-Bahnlinie 7 und fährt zu ihrer Arbeitsstelle, einem Bistro im Stadtteil Wilmersdorf. Um 18 Uhr beginnt die Abendschicht. Gisela W.s Arbeit ist preisgünstiger als die ihrer Westberliner Kolleginnen; sie wohnt im Osten und arbeitet im Westen. Wenn sie Glück hat, erreicht sie nach getaner Arbeit um zwei Uhr früh gerade noch den Nachtbus. Oft hat sie aber Pech, und der erste Frühbus fährt um fünf. Die Grenzpolizisten kennen sie schon, mißtrauische Fragen hat sie mit Hinweis auf einen Liebhaber bisher erfolgreich abgewehrt.

Die Liebe der Ostberlinerin aber gilt dem Westgeld, und inzwischen hat sie davon schon eine ganze Menge im Sparstrumpf. Fünf Mark „Garantie“ bringt ihr die Kellnerei ein, plus mindestens 80 Mark Trinkgelder pro Abend - seit Mitte Dezember insgesamt runde 1.500 Mark. Würde sie das West- in Ostgeld umtauschen, und zwar nicht mal zum Schwarzmarktkurs von 1:6, sondern zum regulären von 1:3, dann hätte sie in vier Wochen weitaus mehr verdient als DDR -Ministerpräsident Modrow.

Nach Rechtsauffassung der DDR arbeitet Gisela W. schwarz; deviseneinbringende Nebentätigkeiten im Ausland sind genehmigungspflichtig, und Gisela W. besetzt eine nicht gekündigte Stelle als Miederwarenverkäuferin in einem HO -Laden. Bis Anfang Januar hatte sie regulär Urlaub genommen, seitdem ist sie krankgeschrieben. Sie profitiert von allen sozialen Hängematten in der DDR: Sie hat eine subventionierte Wohnung, subventionierte Grundnahrungsmittel und genießt den subventionierten öffentlichen Nahverkehr. Ihre Lebenshaltungskosten betragen nicht mehr als 400 Mark Ost. Zusätzlich ist sie jetzt ganz erheblich begünstigt von den Wechselkursdisparitäten.

Nach Rechtsauffassung der Bundesrepublik hingegen - und das gilt auch für West-Berlin - ist Gisela W. aber keine Schwarzarbeiterin, sondern eine DDR-Pendlerin. Die Behörden hier können aufgrund fehlender Meldesysteme nicht feststellen, ob sie in einem Arbeitsverhältnis steht oder nicht. Nach geltendem Recht ist sie Deutsche im Sinne des Grundgesetzes und kann daher, wie jede andere Deutsche auch, bis zu 470 Mark im Monat verdienen - ohne Lohnsteuerkarte und ohne Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen. Ihr Arbeitgeber führt einen Lohnsteuerpauschalsatz von zehn Prozent (in der BRD: 15 Prozent) an das Finanzamt ab, und schon ist alles in Ordnung. Bis zum 1.Januar 1990 konnte die „Beschäftigung in geringem Umfang und für geringen Arbeitslohn“ gleich mehrfach von einem Arbeitnehmer ausgenutzt werden. Arbeitgeber X fragte bei Arbeitgeber Y nicht an, ob die Ostberliner Arbeitskraft auch schon bei ihm beschäftigt sei.

Mit dem „Gesetz zur Einführung des Sozialversicherungsausweises und zur Änderung anderer Sozialgesetze vom 6.Oktober 1989“ soll das Klima etwas rauher, die Grauzone der illegalen Beschäftigung etwas heller werden. Die Arbeitgeber sind jetzt mit der Änderung des Melderechts dazu verpflichtet, auch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse den Krankenkassen zu melden. In einigen Wirtschaftsbereichen, so im Bau-, Schausteller-, Messe- und Gebäudereinigungsgewerbe, müssen diese Meldungen auch „sofort“ erfolgen. Ab 1.Juli 1991 sind die Beschäftigten dieser Branchen auch dazu verdonnert, ständig einen Sozialversicherungsausweis mit sich herum zu tragen. Die restlichen Arbeitnehmer dürfen ihre Pässe vorerst zu Hause lassen.

DGB: Grundsätzliches Verbot

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hält die Meldepflicht dieser geringfügigen Beschäftigung für ein wenig ausreichendes Mittel gegen Schwarzarbeit. Bis die Arbeitgeber die Krankenkassen, die wiederum die zentrale Rentenerfassungsdatei informiert haben, und wiederum jemand anderes nachfragt, ob Frau Erika Mustermann zur gleichen Zeit bei verschiedenen Arbeitgebern geringfügig beschäftigt war, können Jahre vergehen. Ihrer Meinung nach müßte die steuer- und sozialversicherungsfreie Lohnarbeit grundsätzlich verboten werden. Die Gesamtzahl der sozialversicherungsfrei Beschäftigten in der Bundesrepublik beziffert der DGB auf etwa 2,3 Millionen Personen, in West -Berlin auf etwa 70.000. Durch die Öffnung der Grenzen - und das Beispiel Gisela W.s zeigt es - wird sich diese Zahl erheblich erhöhen.

Beim Landesarbeitsamt Berlin erkundigen sich Tag für Tag bis zu hundert DDR-Bürger über die Rechtslage bei einer geringfügigen Arbeitsaufnahme, täglich 30 mit steigender Tendenz tragen sich als Arbeitssuchende auf Wartelisten ein. Nicht erfaßt sind dabei die studentischen Arbeitsvermittlungen und die große Zahl derjenigen, die sich auf eigene Faust einen Job suchen. Der Vorsitzende des DGB -Berlin, Michael Pagels, schätzt, daß etwa 3.000 Ostberliner im Westteil der Stadt regelmäßig einer nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen. „Aus der Sicht der DDR-Bürger verständlich“, meint Pagels, „aber es muß eine einschränkende vertragliche Lösung her. Grundsätzlich muß verhindert werden, daß Menschen, die in der DDR arbeiten, durch zusätzliche Beschäftigung in Berlin -West ihren Lebensunterhalt mit Hilfe der Wechseldisparitäten so verbessern, daß der Demokratisierungsprozeß in der DDR erheblichen Gefahren ausgesetzt wird.“

Labiles Klima

Und die Gewerkschaften sehen eine weitere Gefahr für das labiler werdende politische Klima auf dem Arbeitsmarkt: Es mehren sich die Anzeichen, so die Gewerkschaft HBV, daß die billige DDR-Pendlerarbeit hier zum „massiven Lohndumping“ mißbraucht wird. Um das zu verhindern, hat die Gewerkschaft jetzt beim Berliner Senat die „Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge für den Berliner Einzelhandel“ beantragt.

Das Problem Schwarzarbeit und Mißbrauch mit der legalen „geringfügigen“ Beschäftigungsmöglichkeit beschäftigt aber nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Politiker in Ost- und West-Berlin. Walter Momper forderte in einem 'Spiegel'-Gespräch Ende 1989, daß per Gesetz ein „Genehmigungsvorbehalt für die Arbeitsaufnahme von Pendlern aus der DDR“ eingeführt werden muß, denn es liege nicht im Westberliner Interesse, „daß bei uns die ohnehin rare Arbeit weggenommen wird und auf der anderen Seite dann der DDR auch noch die Arbeitskräfte fehlen“.

Im Regional- und Wirtschaftsexpertenausschuß der beiden Städte wird seitdem an Lösungen gebastelt, bisher allerdings ohne konkretes Ergebnis. Im Westteil interpretiert man inzwischen - und die Alternative Liste auch laut - das 1950 erlassene alliierte Devisenbewirtschaftungsgesetz. Dort werden mit der „Verordnung 500“ innerdeutsche Waren- und Dienstleistungsgeschäfte verboten, sofern sie nicht mit einer Ausnahmeregelung ausdrücklich erlaubt sind. Wenn Arbeitsverträge Dienstleistungsgeschäfte nach Paragraph 1h sind und nicht Werkverträge, dann haben die Alliierten in der Hand, die Arbeitsaufnahme von DDR-Bürgern zu verbieten. Eventuell schneller wirksam oder zumindest eine Arbeitsbremse wird das ab 1.Februar geltende neue Reisegesetz der DDR sein. Darin wird mit dem Entzug des Reisepasses gedroht, wenn Bürger der DDR im Ausland einer „entgeltlichen Tätigkeit“ nachgehen. So wird Gisela W. möglicherweise ihre Stelle im HO-Laden wieder voll ausfüllen müssen.

Anita Kugler