: Vorauseilender Gehorsam
■ „Die Bakchantinnen“ von Egon Wellesz in Bielefeld, eine deutsche Erstaufführung
Wie ihr euch durch Musik entbößtet! Kurt Tucholsky sagte zum Weihnachtsfest 1930 den Künstlern kräftig die Meinung: In eurer Kunst ist keine Faust. So habt ihr euch noch stets getröstet, wenn über euch die Peitsche saust. Gemeint sind die, die sich auf Mythologie, Neoklassizismus und spätromantische Träume „zurücknehmen„; solches Abheben der schönen Künste wußte sich in tiefem Einvernehmen mit der Geschmacksträgerschicht: Sie wollen sich mit Kunst betäuben, sie wollen nur noch Märchen sehn. Das Bürgertum erliegt der Wucht: Flucht, Flucht, Flucht.
Als wolle er den Rechthaber K.T. in besonderer Weise bestätigen, brachte Egon Wellesz 1931 an der Wiener Hof- und Staatsoper seine Bakchantinnen heraus. Es war das fünfte Bühnenwerk des 1885 geborenen Komponisten, Musikkritikers und -wissenschaftlers Wellesz; 1921 hatte er in Frankfurt und Hannover mit Prinzessin Ginara Achtungserfolge erzielt, 1924 mit dem Hofmannsthal-Libretto Alkestis und 1926 mit der (ebenfalls von Hofmannsthal angeregten) Opferung der Gefangenen den Ruf eines bemerkenswerten Opernkomponisten errungen. Jedesmal dienten mythologische Stoffe der Erörterung von Allgemeinmenschlichem, das auch am Ende der krisengebeutelten zwanziger Jahre Geltung erheischte und, vermittelt durch den Abstraktionsgrad, auch irgend etwas mit den Problemen der Zeit zu schaffen hatte.
Die Zeitstücke sind das Material, aus dem das Bielefelder Musiktheater seine brisanten Produktionen schneidert. In erstaunlich rascher Folge präsentierte das Team um John Dew allein im letzten Jahr Franz SchrekersSingenden Teufel von 1928, Ernst Kreneks Sprung über den Schatten von 1923, Halevys Jüdin von 1835, Nixon in China von John Adams. Nach diesen bestürzenden und belustigenden Ausflügen zur Heroischen Oper jetzt also zurück zum Dunkel des Mythos, dem Gottfried Pilz ein karges Gehäuse setzte: ein von einem Lichtrand eingefaßtes, nach hinten leicht ansteigendes Viereck als Spiel- und Tanzfläche, über und neben dem sich Wände und Decke zusammenziehen - alles mit dunkler Folie ausgeschlagen und durch Leuchtröhren belebt: Lichtzeichen der Erwartung; Penis -Symbole, die in den Raum ragen. Auf Anregung des Dichters Hugo von Hofmannsthal (und angesteckt von dessen Antikenbegeisterung) schrieb sich Wellesz das Libretto nach der Pentheus-Tragödie von Euripides selbst. Mit den Figuren aus dem prähistorischen Theben verhandelte und vertonte der Komponist Momente des Unbehagens in der Kultur um 1930. Sehr vermittelt, wie gesagt. In der archetypischen Konfiguration geht es um die rauschende Selbstverwirklichung der Frauen, zu welcher der Halbgott Dionysos (aus durchaus dunklen Motiven) anstiftet; im Gegenzug zu solch unverhoffter und irritierender „Emanzipation“ versucht der Ordnungshüter, der ins Königsamt nachgerückte Pentheus, die etablierten Verhältnisse zu stabilisieren. Es geht in dünner historischer Luft und mit erhabener Sprache um den Konflikt zwischen triebhafter Natur, Naturrecht, Weiblichkeit contra Staatliche Ordnung, domestizierte Kultur, männlichen Pragmatismus.
So richtig rauschend und ekstatisch gerät das von John Dew angeleitete Spiel dieses Mal nicht. Das mag daran liegen, daß die ostwestfälischen Opernchoristinnen das Bacchanal der freigesetzten Lust nicht darzustellen vermögen (und auf die Ballett-Damen verzichtet wurde). Plausibler erscheinen Momente wie die Verhaftung der aus der Ordnung springenden Frauen durch die Pentheus-Truppe; Dew läßt die zu bedrohlichen Vögeln stilisierten Frauen in großen Schleppnetzen einfangen. Manches Zitat aus Inszenierungen Robert Wilsons hat sich da in Bielefeld eingefunden. Das vom Dionysos-Kult infizierte Damentrio der Königsfamilie (Ingeborg Schneider, Ruxandra Voda und Susan MacLean mit anzüglichen Brustpanzern und hervorragenden Kehlleistungen) vermochte die Lust der Befreiung und die Befreiung der Lust ungleich wirksamer vorzustellen als das Gros der grauen Chorfrauen. Alle zusammen aber haben sie im entscheidenden Augenblick ein Beil zur Hand. Unter Führung der Königsmutter Agave wird Pentheus kleingehackt. Die Hände, die abgeschlagenen, wie die um Vergebung hochgereckten, prägen die Schlußbilder der Inszenierung.
John Dew hat - entgegen seinen Gewohnheiten - dem Wellesz -Libretto nichts entgegengesetzt, keine Lichtlein der Erkenntnis aufgesteckt. Die Musik, die antikisiert und etwas Kunstgriechisches einzufangen hoffte, war auch 1931 nicht auf der Höhe der Zeit. Sie wollte neben der Epoche gehen: neoklassizistisch gebremste Modernität, die in vorauseilendem Gehorsam anscheinend bereits Reichskulturkammerrichtlinien internalisiert hatte.
Aber der Schein trügt. Wellesz, bis 1938 Lehrstuhlinhaber in Wien, mußte vor den Nazis fliehen, emigrierte nach Oxford, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1974 ein Gelehrtendasein fristete (und kaum mehr am produktiven Musikleben teilnehmen konnte). Dennoch: das um 1930 gesteckte Ziel, den ekstatischen Rausch in irisierende Musik zu fassen und dem Schrecken der Zerfleischung wirklich schreckliche Form zu geben, dieses Ziel wurde kompositorisch mit denBakchantinnen nur höchst partiell erreicht. So dürfte diese Bielefelder Reaktivierung vergebliche Liebesmüh bleiben.
Frieder Reininghaus
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