piwik no script img

Kann man noch links sein?

Der französische Soziologe Alain Touraine über den Zerfall der Ideologien  ■ D O K U M E N T A T I O N

Der Zerfall der kommunistischen Regimes - ob er nun das Tor zur Demokratie öffnet oder unterdrückerischen Diktaturen dient, zeigt nicht nur das Ende eines politischen Modells an, sondern, allgemeiner, das Ende einer revolutionären Vorstellung von der Geschichte und der Gesellschaft, auf die sich ein Großteil der Linken, selbst außerhalb der Länder des realen Sozialismus, aufgebaut hat.

Bedeutet der Zusammenbruch dieser Weltanschauung das Ende der großen ideologischen und politischen Konfrontationen und insofern das Ende der Geschichte, oder kann man bereits neue ideologische Debatten und neue gesellschaftliche Auseinandersetzungen herannahen sehen, die einen Neuaufbau der Linken wie der Rechten erfordern? Diese Frage stellt sich nicht nur in Mittel- und Osteuropa, sondern auch in Italien, Spanien und Lateinamerika. Und warum sollte sie sich nicht auch in Frankreich stellen?

Anders gesagt: Gibt es nur einen Ausweg aus den heutigen Erschütterungen, nämlich den liberalen, der mehr oder minder durch öffentliche Programme zur Umverteilung über die Steuer und die Sozialversicherung ergänzt wird, oder kann der Gegensatz zwischen der Rechten und der Linken einen neuen Sinn bekommen?

Was unter unseren Augen einstürzt, ist die Identifizierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem historischen Fortschritt, die Verschmelzung der Forderungen, vor allem der Arbeiter, mit einer Politik der wirtschaftlichen Modernisierung, kurz: die Gleichsetzung der sozialen Bewegung mit der Übernahme der Staatsmacht, die den Begriff Revolution definiert und der revolutionären Avantgarde mit Intellektuellen und politischen Führern an der Spitze die Führungsrolle übergibt, während das in seine Armut, Unwissenheit und Unterdrückung eingeschlossene Volk den Verteidigern dieses Modells zufolge nicht Handelnder in der Geschichte sein konnte. Diese These hat in der Dritten Welt extreme Formen angenommen, wo die revolutionären Intellektuellen dem entfremdeten und ausgebeuteten Volk mißtraute und dem antiimperialistischen Kampf als Voraussetzung für die Herausbildung verantwortungsvoller gesellschaftlich Handelnder Priorität einräumten.

Es ist heute verführerisch, das Kind mit dem Bade auszuschütten und zu meinen, die Idee der sozialen Bewegung müsse zusammen mit der von der Revolution abgeschafft werden. Die heftige Ablehnung des revolutionären Voluntarismus, des Vaters des totalitären Despotismus, weist zunächst in Richtung Liberalismus, der jeden Voluntarismus beseitigt und nur Nachfrage und Markt organisiert.

Es stimmt, daß in Osteuropa viele vor allem eine Marktwirtschaft aufbauen wollen und daß in Westeuropa, unter Mitterrand wie unter Thatcher, unter Gonzalez wie unter Kohl allein von internationalem Wettbewerb und von der Vorreiterrolle der großen Unternehmen gesprochen wird, wobei der Staat im Dienste einer insgesamt liberalen Politik sozialdemokratisch orientierte Maßnahmen anwendet.

Dieser Triumph des Liberalismus hat jedoch zwei Grenzen. Zum einen nimmt nur ein bestimmter Teil der Bevölkerung sehr unterschiedlich je nach Land - an dieser Weltwirtschaft teil. Ein Viertel oder ein Drittel der Bevölkerung der westeuropäischen Länder und der USA sind in dem Randbereich eingeschlossen, in dem Zwei Drittel oder drei Viertel der Weltbevölkerung leben.

Für die Rechte besteht das Wesentliche darin, daß ihr Land beim Rennen um die Modernisierung über Läufer in vorderster Reihe verfügt. Diese werden die Gesamtheit der Gesellschaft nach sich ziehen, die gleichzeitig durch einen Appell an sein Nationalbewußtsein mobilisiert werden muß. Für die Linke bedeutet das Rennen, die Reihen fester zu schließen und die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Abstände zu verringern, um die Moral der Truppen zu verbessern und die Widerstände gegen die von der internationalen Konkurrenz aufgezwungenen Veränderungen zu verringern. Diese Trennungslinie zwischen der Linken und der Rechten stimmt nicht mit der gewohnten überein: Früher ging es darum, die entgegengesetzten Gesellschaftsklassen zu vertreten. Heute geht es darum, zwei Arten, mit dem Wandel umzugehen, gegeneinanderzusetzen.

Die zweite Grenze für das liberale Modell wird durch die Herausbildung neuer sozialer Bewegungen gezogen. Die Öffentlichkeit verteidigt glühend die Menschenrechte und geht dabei so weit, die französische Revolution abzulehnen und davon nur die Erklärung der Menschen - und der Bürgerrechte zu bewahren.

Diese Verteidigung der Menschenrechte, der Freiheiten, des Willens des einzelnen, über sein eigenes Leben frei zu bestimmen, kann in keiner Weise in den Voluntarismus oder den Nationalismus der modernisierenden Staaten integriert werden. Die alten sozialen Bewegungen widerstanden einer Beherrschung durch die Ökonomie durch Berufung auf die Geschichte und ihre Naturgesetze. Die neuen widerstehen einer eher politischen und ideologischen Dominanz durch Berufung auf die Moral, die die große Idee des Naturrechts wieder auferstehen läßt. Volksbewegungen und Staat wurden lange Zeit gemeinsam vor den selben Karren gespannt. Sie stehen heute gegeneinander, wie an der schnell wachsenden Stärke der politischen Ökologie abzulesen ist.

Aus diesem Grund muß die Verbindung der sozialen Bewegungen mit der Revolution durch eine Vereinigung mit der Demokratie ersetzt werden. Die Marktwirtschaft drängt sich nicht als einzig mögliches Wirtschaftsmodell auf, sondern als die einzige unabweisbare Verteidigung der zivilen Gesellschaft gegen den Staat, seine Nomenklatur und seine autoritäre Ideologie.

Die Ablehnung des kommunistischen Regimes führt zunächst zum Liberalismus, und diese Tendenz ist heute die sichtbarste, angesichts der Anziehungskraft, die der Reichtum des Westens auf die verarmten und schlecht versorgten Völker des Ostens ausübt. Jedoch ist auch die Verbindung zwischen neuen sozialen Bewegungen moralischer und kultureller Prägung und einer neo-sozialdemokratischen Politik vorherzusehen, der Kampf gegen die durch den internationalen Wettbewerb beschleunigten sozialen Ungleichheiten und gleichzeitige Beschleunigung des technischen und ökonomischen Wandels.

Die Länder des Ostens können einen unwiderstehlichen Druck für das liberale Modell ausüben; sie können auch - dies ist die ungünstigste Hypothese - zu nationalen Kämpfen zurückkehren, die durch die Schwächung des russischen Gendarmen wiederbelebt werden. Sie können schließlich einer sozialdemokratisch ausgerichteten Politik neues Leben geben, und hierin scheint die Tschechoslowakei die aktivste Rolle zu spielen. Sie können auch stark zur Herausbildung neuer sozialer, ethischer oder ökologischer Bewegungen beitragen. Im Westen beruht die Macht Deutschlands sowohl in seinen Exporten als auch in seinem Vorsprung in der Transformation des politischen und gesellschaftlichen Bereichs, in der Entwicklung der SPD dank des Drucks durch die Grünen. Großbritannien und Frankreich bleiben hingegen in der schwierigen Auflösung der Protoindustrie und der sozialen und politischen Aktionsformen, die dieser entsprach, hängen. Die Linke dieser beiden Länder ist schweigsam geworden, wenn sie nicht nostalgisch ist oder wenn sie sich nicht darauf beschränkt, die korporativen Interessen der Staatsangestellten innerhalb eines liberalen Modells zu verteidigen. Nun können wir uns beim Sturz der kommunistischen Regimes jenseits des Eisernen Vorhangs nicht mit der Zuschauerrolle begnügen. Dieser Sturz berührt direkt unser eigenes politisches Leben.

Sowohl die Rechte wie die Linke müssen neu aufgebaut werden, was am Gipfel Kämpfe auslösen wird und vor allem die intellektuelle und praktische Aufnahme von Debatten und neuen gesellschaftlichen Konflikten verlangt.

Zu einem Zeitpunkt, da uns ein weiteres Mal das Ende der Geschichte und der Identifizierung mit dem angekündigt wird, was einer der Bereiche der universellen Wahrheit war, müssen wir im Gegenteil theoretische und praktische Debatten wiederbeleben, die zu lange vom Kadaver des revolutionären Modells erdrückt worden sind. Und wie sollte man übersehen, daß das Europa von morgen von jenen bestimmt werden wird, die fähig sind, ein neues gesellschaftliches und politisches Modell zu entwickeln und damit die beiden endlich vereinigten Teile unseres Kontinents zu integrieren.

(Gekürzt aus: 'Le Monde‘ vom 23.1.)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen