Ein diskreter Autor

■ Gestern, am 28. Januar, feierte Hermann Kesten seinen 90. Geburtstag

Ein biblisches Alter hat das Schicksal dem Atheisten Kesten geschenkt, der sich, ironischerweise zwischen Jesus und Moses sitzend, porträtieren ließ. Die Stadt Nürnberg ehrt ihren größten Literaten mit einem Festakt. Willy Brandt, Reich-Ranicki, Walter Jens haben sich angesagt.

Trotz eines umfangreichen literarischen Werkes ist Kesten heute weitgehend unbekannt. Die Wiederentdecker der Exilliteratur in den siebziger Jahren haben ihn wohl nicht zuletzt aus ideologischen Gründen vernachlässigt. Kesten gilt in der linken Literaturwissenschaft gemäß dem Aufsatz von Walter Benjamin als „linker Melancholiker“, als antiquierter Humanist, unbrauchbar für den Klassenkampf.

Oft verwechselt wird Kesten mit Kästner. Nicht einmal zu Unrecht. Sie waren lebenslang enge Freunde. Beide gehören zur Nachkriegsgeneration der Weimarer Republik. Sie lösten den „Expressionismus“ des Kaiserreichs durch eine „Neue Sachlichkeit“ ab. Die Expressionisten konnten vor dem Ersten Weltkrieg, vor der Novemberrevolution noch „an den Sonnenaufgang einer edleren Epoche nach dem blutroten Untergang einer mißratenen Zeit glauben.“ (Kästner)

Doch die um 1900 Geborenen, erlebten ihre Enttäuschungen, bevor sie zu schreiben anfingen: als Kinder in Uniform, als halbwüchsige Betrachter einer halbgaren Revolution, als hungernde Studenten, als Randfiguren in einem grotesken, tragikomischen Sittengemälde. Für die jungen Literaten der Neuen Sachlichkeit war zu Optimismus kein Anlaß. „Wir sahen, was war, und schrieben es auf. Wir ahnten, was käme, und notierten unsere Befürchtungen. Wir blieben bei der Sache. Die Schilderung der Zustände war freilich kein literarischer Selbstzweck. Wir zielten auf die Zeit, um die Zeitgenossen zu treffen. Das Schwarze, das wir treffen wollten, war ihr Gewissen.“ (Erich Kästner)

Kesten glaubte seit seiner Kindheit leidenschaftlich an unzerstörbare Werte, die nur verschüttet sind. Seine Glaubenssätze entstammen der Moral seiner jüdischen Eltern, die, in Galizien aufgewachsen, glühende Verehrer der deutschen Aufklärung und Klasik waren. Toleranz, Vernunft, Wahrheit, nach solchen Prinzipien zu schreiben, zu wirken und zu leben, war Kestens lebenslanger Anspruch. Seine strenge, moralische Haltung machte ihn zum belächelten Außenseiter der literarischen Szene. Denn die meisten engagierten Autoren der Weimarer Republik orientierten sich an sozialistischen oder irrationalen Theorien. Leben und Werk vieler Literaten klafften erheblich auseinander.

Kesten hingegen, so urteilt eine DDR-Literaturgeschichte, gehört zur Kategorie der „Abstrakten Humanisten“: Sie sehen die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft als unauflöslich widersprüchlich an und stellen sich auf die Seite des Individuums.

Das geheime Versprechen der Epoche, schrieb Kesten, ist der Wunsch, gemäß dem eigenen Gewissen zu leben, ein Mensch nach eigenem Geschmack zu sein. Das Leben der meisten Menschen, urteilt Kesten, erscheint ihnen wie eine Theaterprobe eines dilettantischen Spektakelstücks, das nicht für sie aufgeführt wird und in das sie nur durch Zufall geraten sind.

Sein literarisches Schaffen verstand Kesten als Versuch, „die Vertauschbarkeit eines Individuums von heute, die Unverbindlichkeit moderner Charaktere und ihrer Lebensläufe und Handlungen und ihres Vokabulars“ zu denunzieren. Dabei ist in seinen vierzehn Romanen der Moralist kein langweiliger Prediger, sondern er nennt sich einen „diskreten Autor“. Nicht seine Bücher sind realistisch, sondern sie sollen die Leser realistisch stimmen. Seine literatischen Prinzipien hatten mit sozialer oder politischer Reportage nicht das mindeste zu tun. Künstlerische Stilmittel in Kestens Romanen sind: „Übermäßigkeit der Handlungen, Einseitigkeit der Charaktere, Übertriebenheit der Situatonen, Gewalttätigkeit der Konstruktion, bewußter Verzicht auf differenzierte Psychologie und der stilisierte, jeder Art von Wirklichkeitstreue entgegengesetzte Dialog.“ (Erich Kästner)

Kestens Romane sind Parodien, Possen, Grotesken, Komödien. Solche Stilformen sind gestern wie heute nicht jederfraus Sache. Für den thematisch orientierten Leser empfiehlt sich Der Schalatan (1932, Der Weg in das Dritte Reich),Glückliche Menschen (1931, Die Liebe ist meist nur Klischee) und die historischen Romane Ferdinand und Isabella sowie König Philipp II. (1936/38, Spanien zur Zeit der Inquisition). Diese Bücher wie fast alle weiteren Romane gibt es als Taschenbücher bei Ullstein.

Neben seiner umfangreichen eigenen literarischen Arbeit war Kesten seit Ende der zwanziger Jahre auch als Literaturvermittler engagiert. Von 1927 bis zu seiner Flucht aus Deutschland förderte er als Lektor des Kiepenheuer -Verlags junge literarische Talente wie Seghers, Fleißer, Benn, aber auch Autoren wie Heinrich Mann und Joseph Roth. Im Exil leitete er den Allert de Lange-Verlag bis 1940, ein gewichtiger Faktor für die Fortexistenz exilierter Autoren. Besonders um Joseph Roth und Rene Schickele, deren Herausgeber er ist, hat er sich verdient gemacht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich Kesten literaturpolitisch durch die Auseinandersetzung mit rechten (Benn) wie linken Literaten (Brecht) exponiert. Dem einen warf er die Kollaboration mit Hitler, dem anderen mit Stalin vor. Als Mitglied und späterer Präsident des P.E.N.-Clubs (1972 bis 1976) wetterte er gegen die Herrschenden in Ost und West. Das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik hat er höflich abgelehnt und selbst bei literarischen Preisverleihungen (Büchner-Preis, 1974) gerieten seine Dankesreden zu Attacken gegen die anwesenden Honoratioren.

Norbert Schmidt