: Nationale Verantwortung?
■ Die vorgezogenen Wahlen in der DDR
Parteitaktisches Kalkül mag bei der Entscheidung der Ost -SPD, den schnellstmöglichen Neuwahltermin durchzudrücken, eine Rolle gespielt haben. Doch der naheliegende Verdacht, die SPD habe nur ihre ohnehin guten Wahlchancen durch den massiven Zeitdruck für alle hinterherhinkenden Organisationen weiter ausbauen wollen, geht am Kern der Entscheidung vorbei. Man braucht ja nicht mehr Modrows Regierungserklärung vor der Volkskammer nachzulesen, um zu realisieren, daß die Situation des Landes auf die Eskalation zutreibt: ungebremster Aderlass, desolate Versorgung, zunehmende Radikalisierung, Auflösung kommunaler und zentraler Strukturen. Zwar ist die schnellstmögliche Etablierung einer demokratisch legitimierten Regierung angesichts der schier endlosen Problemkette alles andere als eine Garantie auf die Problemlösungskompetenz der künftigen Entscheidungsträger. Aber sie ist immerhin die notwendige Voraussetzung, die auch durch die Integrität und Restpopularität eines Hans Modrow nicht mehr kompensiert werden kann. Doch die Krise der DDR ergibt sich nicht mehr aus der Summe ihrer gravierenden Einzelprobleme. Sie wird vielmehr überwölbt vom Umschlag der Bewegung, die den revolutionären Prozeß losgetreten hat. Das Volk hat die Mauer eingerissen, die Partei in die Auflösung getrieben und ihre Späher arbeitslos gemacht. Im atemberaubenden Prozeß der Befreiung, haben sich die ursprünglich von den intellektuellen Wortführern der Revolution propagierten Formen aufgelöst, die Inhalte verflüchtigt. Die Energien reichten zur Destruktion des Systems, doch nicht zur Konkretisierung der authentischen, demokratischen Perspektive.
Die Revolutionäre Emotion des „Alles ist möglich“ beherrscht weiter die Stimmungslage. Sie kontrastiert scharf mit der faktischen Situation des „nichts geht mehr“. Mit der Wiedervereinigungsforderung hat sich die Bewegung jene Perspektive geschaffen, die den Kontrast zwischen Volksemotion und realer Misere auflösen soll. Unter dem Druck der Bewegung haben sich alle relevanten politischen Kräfte auf die Forderung nach Einheit eingelassen. Doch ihr Kalkül ist brisant. Man müsse den Stimmungen ein Stück weit entgegenkommen, damit die internationalen Hindernisse, die der schnellen Vereinigung im Weg stehen überhaupt noch Gehör finden. Doch es gibt keine Anzeichen, daß die nationale Begeisterungswelle, die mit der irrealen Aussicht auf die Lösung der materiellen Misere zusammengeht, durch rationale Vorbehalte beeinflußt werden könnte.
Es steht zu befürchten, daß die Entscheidung vom Wochenende genau das beschleunigt, was sie verhindern sollte: Die weitere Anheizung der Krise durch die zwangsläufige Frustration der auf unmittelbare Befriedigung zielenden Euphorie. Mit ihrem unverschämt-naiven Wahlkampfslogan „Deutschland einig Vaterland“ könnte sich die künftige SPD -Regierung in eine noch ausweglosere Situation manövrieren als die, in der Modrow jetzt aufgiebt. Die Handlungsfähigkeit der Regierung könnte dann von ihrer Bereitschaft abhängen, die Kräfte zu domestizieren, die in den nächsten Wochen weiter entfesselt werden.
Matthias Geis
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