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Der FOAF geht um...

■ Wir alle sind beteiligt an der Entstehung moderner Sagen und Märchen/Anglo-amerikanische folkloristen sprechen von "new urban legends"

Fall 1:

Unter der Rubrik „Was fehlt?“ las ich mit flüchtigem Schauder in der taz vom 9.Dezember 1987: „Erbsen - Mrs.Anita Morley fand in einer Konserve statt dessen einen Schlangenkopf.“

Fall 2:

Kürzlich traf ich einen Freund zu einem Kabarettabend, ihn begleitete eine Frau, die unsere Wartezeit im Foyer mit einer ungewöhnlichen Geschichte zu überbrücken wußte.

Dem Bekannten einer Arbeitskollegin wäre da etwas Peinliches passiert.

Der Mann war mit seinem fabrikneuen VW in einen Auto -Wildpark gefahren.

Das Seitenfenster hatte er trotz Verbot herabgelassen, denn es war Hochsommer; zudem verspürte er Appetit: Gerade war er dabei, eine Banane zu verspeisen, als sich ein Elefant dem Wagen näherte, die heimische Frucht witterte und mit seinem Rüssel versuchte, ihrer habhaft zu werden. Der Fahrer geriet in Panik und kurbelte rasch das Fenster hoch. Dabei quetschte er dem empfindsamen Tier den Rüssel, was der große Graue nicht auf die leichte Schulter nahm. Er demolierte kurzerhand den VW.

Der entnervte Mann steuerte sein deformiertes Fahrzeug zur nächsten Stehkneipe, um sein Abenteuer bei mehreren Schnäpsen zu verarbeiten. Nach zwei feuchten Stunden verließ er die Kneipe und suchte schwankenden Schrittes seinen Unglückswagen auf. Dort stand bereits eine Polizeistreife: Was denn passiert sei - Unfall?

Nein, Herr Wachtmeister, das war ein E-le-fant!

So kostete ihn die kleine Safari auch noch den Führerschein!

Unglaublich, lachten wir.

Im Dunkel des Saales aber schmunzelte ich in mich hinein, denn ich ahnte, daß der FOAF hier seine Hand im Spiel hatte...

Wo nun liegt das tertium comparationis der beiden Stories von Schlangenkopf und Dickschädel, möchten die lateingequälten LeserInnen wissen, und auch die übrigen fragen zu Recht: Was, außer der platten Formel „Mensch stößt auf Tier“, verbindet sie eigentlich? Die Antwort darf als gesichert gelten: In beiden Fällen handelt es sich um moderne Mythen, Alltagsmärchen, weltweit in einer beachtlichen Anzahl von Typen und Varianten verbreitet.

Sogar einen wissenschaftlichen Namen besitzen diese Kinder der gebeutelten Psyche des postmodernen Zeitgenossen: Von „modern legends“ oder „new urban legends“ sprechen anglo -amerikanische Folkloristen.

Erzählt werden diese neuen, „urbanen“ Sagen an allen gesellschaftlichen Orten: im Büro oder am Tresen, auf Parties, im Zugabteil oder in öden Wachstuben.

Die Kolporteure der meist horriblen Erzählungen sind wir selbst: „We are not aware of our own folklore any more than we are of the grammatical rules of our language“, meint der amerikanische Volkskundler Jan Harold Brunvand. Damit mag mensch sich trösten, falls sie oder er eine der in Rede stehenden Geschichten schon gehört, gelesen, vor allem aber geglaubt und weitererzählt haben sollte. Freilich ist auch die Rolle der Medien beim Transport dieser pikanten Erzählstoffe nicht zu unterschätzen: So manche fand ich sogar zum Fernsehsketch verarbeitet.

Berechtigter Einwand: Warum sollte Mrs.Anita Morley keinen Schlangenkopf in der Erbsenbüchse vorgefunden haben? Und ist nicht auch der Zwischenfall im Auto-Wildpark vorstellbar?

Natürlich sind reale Initialereignisse für die Bildung eines bestimmten Erzählmotivs nicht grundsätzlich auszuschließen, soweit der Inhalt nicht vollkommen phantastisch ist. Gänzlich unwahrscheinlich ist allerdings, daß sich ein und dieselbe merkwürdige Geschichte in jeweiliger Variation Hunderte, ja Tausende von Malen in Deutschland, Finnland, Japan, Australien oder Israel ereignet. Die Erfahrung des Legendenjägers lehrt außerdem, daß der von der Forschung so getaufte FOAF (friend of a friend), dem das Mißgeschick angeblich passierte, einfach nicht mehr aufzuspüren ist, die Erzählerkette sich also irgendwann im dunkeln verliert.

Auch das Chip-Zeitalter produziert also „Sagen“?

Der terminologische Brückenschlag zu unseren „althergebrachten“, vertrauten Erzählungen von Hexen und Teufelsbündern, vom Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, von Rübezahl oder Loreley scheint zunächst gewagt, wenn wir den „Volksmund“ von heute zu Worte kommen lassen.

Da stirbt etwa die Großmutter ausgerechnet beim Auslandsaufenthalt, wird, um lästige Formalitäten zu umgehen, in den Schlafsack gesteckt, auf das Autodach verfrachtet, doch bei der Rückfahrt in einem unbewachten Augenblick samt Fahrzeug geklaut.

Ein Tramper gibt sich als Erzengel Gabriel zu erkennen, kündigt das Jüngste Gericht an und löst sich anschließend, obwohl brav auf dem Beifahrersitz angeschnallt, in Luft auf.

In Hamburgern finden sich Kondome, Rattenzähne in Frühlingsrollen, Mäuse in Cola-Flaschen, ebenso riesige Ratten oder Alligatoren in den Abwasserkanälen von Großstädten.

Eine Touristin überfährt in Anatolien ein Kind und wird von der aufgebrachten Dorfmenge gelyncht.

Ein Ehepaar bringt sich ein „süßes Hündchen“ vom Thailand -Urlaub mit nach Hause, das sich jedoch nach einiger Zeit als gefräßige „Wollratte“ entpuppt und von der Hauskatze nur noch die Pfoten übrigläßt.

Bestattungsangestellte holen einen Verstorbenen ab, stellen die Leiche aus Bequemlichkeit aufrecht in den Aufzug und lassen sie alleine abwärts fahren. Im Erdgeschoß finden sie jedoch zwei Leichen: die Auftragsleiche und einen wahrlich zu Tode erschrockenen Hausbewohner, dem sie aus dem Aufzug entgegengefallen war.

Babies werden nach dem Bad von ahnungslosen Großmüttern oder ausländischen Dienstmädchen im Mikrowellenherd zu Tode „getrocknet“.

Kinder geraten mit Autofahrern in Streit: Sie werfen Kleingeld in Parkuhren, um sich auf diese Weise Spielraum zu schaffen.

Seitensprünge enden stets mit peinlicheN Überraschungen.

An das Ende dieser bewußt gemischten, nicht annähernd vollständigen Gruselliste soll die „Warn-Sage“ von der Aids -Terroristin gestellt werden, gerade weil sich gewisse Boulevardzeitungen darum bemüht haben, ihr Authentizität zu verleihen.

Die Rohform: Mann trifft unbekannte Frau, verbringt eine Nacht mit ihr. Am nächsten Morgen ist sie verschwunden. Auf dem Badezimmerspiegel steht mit Lippenstift geschrieben: „Welcome to the Aids Members‘ Club!“

Überraschend finden sich in diesen zwischen Banalität und Abgründigkeit oszillierenden Geschichten eine Reihe strukturaler Merkmale, die durchaus an das Gesicht der traditionellen „Volkssage“ erinnern: der Wahrheitsanspruch der ErzählerInnen, ihre Berufung auf Verwandte, Freunde oder Autoritäten, die formale Kürze und Schmucklosigkeit des Erzählten, die Angstatmosphäre und schuldhafte Verstrickung der handelnden Personen, freilich auch eine Tendenz zur Komik.

Es bleibt das reizvolle, aber schwierige Geschäft der Deutung. Moderne Sagen zeugen von dem existentiellen Gefühl einer Un-heimlichkeit der Gesellschaft, dies allerdings in verschlüsselter Form.

Eine ideologiekritische Analyse täte sich andererseits nicht schwer, ihren systemkonformen Charakter aufzuweisen. Die bürgerliche Gesellschaft bleibt ihr unwidersprochener normativer Hintergrund. Die „Sagen-Helden“ des 20.Jahrhunderts haben den Schritt vom Wege regelmäßig teuer zu bezahlen: vorehelicher Sexualkontakt, Untreue, Arbeitsnachlässigkeiten, Verlassen tradierter Geschlechterrollen oder Verstöße gegen die (Rechts-)Ordnung enden nicht selten mit Wahnsinn oder Tod. Ansätze zum Widerspruch finden sich unter unseren Musterbeispielen allenfalls im Kinderprotest - doch auch der Spielplatz zwischen den Blechburgen der Erwachsenen muß erkauft und erstritten werden. Bedenklich auch die Mär von der Aids -Terroristin: HIV-Infizierte geraten in den Geruch einer kriminellen Vereinigung.

Angst spielt in der modernen Sage eine Hauptrolle. Etwas Abseitiges und Erschreckendes haftet ihr an. Scham- und Ekelgefühle werden in auffallend vielen Geschichten thematisiert, ebenso bange Fremdheit und tiefe Unsicherheit dem Tod und den Toten gegenüber. Auch die klassischen Angst -Tiere fehlen nicht (Schlangen, Spinnen, Nagetiere).

Apokalypse-Trauma klingt beim hitchhikenden Gottesboten Gabriel an.

Und in Thailand lauern dem arglosen Dollar-Touristen exotische Gefahren auf - Racheängste als Produkt verdrängter Gewissensnöte? Auch der albernen Elefantengeschichte ließe sich so ein ernstzunehmender Hintergrund abgewinnen: Das in seiner Heimat von Ausrottung bedrohte Tier tritt in den Phantasien des „Umweltschädlings Mensch“ plötzlich als urgewaltige Bedrohung auf.

Moderne Sagen dürfen also als Symptome gesellschaftlicher Ängste angesprochen werden - zugleich ist ihre mündliche Reproduktion eine Form der Bewältigung, ein Stück „Angstarbeit“ der ErzählerInnen.

Und Mrs.Anita Morleys Schlangenkopf?

Wer von uns fürchtet nicht zuweilen, auf Unerwartetes zu stoßen, wenn er/sie sich den Produkten der Lebensmittelindustrie anvertraut?

Und überhaupt: ich selbst kann beschwören, bereits einen rostigen Nagel in einer Fischkonserve gefunden zu haben auch ohne FOAF...

Andreas Nicolaus Schweikart

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