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„Wortmeldungen müssen schriftlich vorliegen“

■ Am Samstag wurden „Junge Sozialdemokraten der DDR“ gegründet / Absage an Radikalismus von links und rechts / Politischer Diskurs zwischen Bockwurst und Limonade in der Mittagspause / Das linke Gewissen der DDR-SPD?

Ein hoffnungsvolles Zeichen nannte Hans-Jochen Vogel den Gründungsaufruf zum Jugendverband der DDR-SPD, dem am Samstag mehr als 500 Delegierte und Gäste gefolgt waren. Doch von Hoffnung oder gar revolutionärem Aufbruch war in der überfüllten Aula der 21. Oberschule am Prenzlauer Berg nur wenig zu spüren. Dort ging alles seinen sozialdemokratischen Gang. Es regierte die Geschäftsordnung.

Vielleicht lag das daran, daß nicht nur das technische Know -how in Form von Kopierer und Computer aus der Bonner Jusozentrale herangekarrt worden war, sondern auch das organisatorische. „Die haben schon nachgefragt, wie man sowas auf die Beine stellt“, erläuterte die West-Juso -Vorsitzende Susi Möbbeck, eher in Kater- als in Feierstimmung. Und so wurde sich mühsam durch die Tagesordnung gefressen, vom Präsidium mit harter Hand geführt. Tenor: „Wortmeldungen müssen schriftlich vorliegen“. Der vielfach gerühmte politische Diskurs wurde in die Mittagspause verbannt, in den Keller, zu Bockwurst und Limonade. Da wirkte es schon fast erfrischend, daß es wenigstens bei der Wahl einer Zählkommission zum organisatorischen Gehedder kam, als die Jungsozis sich nicht ganz einig werden konnten, ob sie nun nach Bezirks- oder nach Landesverbänden wählen sollten. Die politische Programmatik auszubreiten, das blieb fast einzig dem designierten Vorsitzenden Arne Grimm vorbehalten. Nach Jahren des stalinistischen Dunkels, der unvorstellbaren psychischen und physischen Gewalt habe er in der Sozialdemokratie seine politische Heimat gefunden. Obwohl der Zwanzigjährige, wie wohl die Mehrheit der Anwesenden stillschweigend die Einheit Deutschlands postuliert, bleibt seine Forderungsliste eher DDR-spezifisch. Mehr Freizeitangebote für die Jugend, mehr Staatsknete für selbstverwaltete Zentren, ideologiefreier Unterricht, preiswerter Wohnraum für Jugendliche und die Vorbereitung auf die kommende Jugendarbeitslosigkeit beherrschen seine Rede. Von Schwester Susi aus Bonn trennt ihn mehr als nur der kleine Unterschied, mehr als die Tatsache, daß die Mitglieder seiner Organisation eine halbe Generation jünger sind und den Wollpullover längst gegen das schicke silbergraue Jackett eingetauscht haben: Mit Sozialismus haben die Jungen Sozialdemokraten (sic!) nichts am Hut. Von der Rednertribüne kommt die Absage an Radikalismus von links und rechts. So läßt Susi Möbbeck in ihrer Rede dann auch nur am Rande einfließen, ihr sei es wichtig, daß sich die Linke der DDR „ihre eigene Begrifflichkeit wieder aneignet“. Im Zentrum der künftigen Diskussionen mit der Schwesterorganisation soll der ökologische Umbau beider Gesellschaften und die Frauenproblematik stehen. Aber die West-Jusos wollen mit allen demokratischen Jugendgruppen der DDR in Verbindung bleiben, auch mit einer geläuterten FDJ.

Den Jungen Sozialdemokraten der DDR fällt dieser Dialog ungleich schwerer. Zwar gab es stehend Ovationen für DDR-SPD -Chef Ibrahim Böhme, der in seiner Rede darauf hinwies, daß niemand seine Geschichte wegwerfen könne - aber auch Buhrufe für den Gastredner von der Berliner FDJ. Ob Böhme und seine SPD vor diesem Jugendverband zittern müssen, bleibt fraglich. Das selbsternannte „linke Gewissen der SPD“ kommt eher so sanft daher wie ein bekannter Weichspüler. Hinter das Motto der Gründungsveranstaltung „Wer, wenn nicht wir!“ gehört allemal ein Fragezeichen.

Dirk Ludigs

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