: „Glasnost“ ist zerbrechlich
Das publizistische Wort gilt in der heutigen Sowjetunion nicht mehr nur als Lametta - doch der Zensor sitzt noch immer unterm Dach ■ Von Barbara Kerneck
Von den ersten Stunden der Perestroika an waren sie dabei, die jungen und auch nicht mehr ganz so jungen sowjetischen Journalisten. Sie nahmen die ersehnte Gelegenheit wahr, um endlich interessante Arbeit zu leisten. Sie schreiben bis heute über Schlampereien, Unfälle und Naturkatastrophen, die vorher offiziell nicht existierten und rollen immer wieder die jüngere Geschichte ihres Landes kritisch auf.
Sie sind es, die dem neuen Gesicht der Sowjetunion in den Augen des Westens einen ehrlichen Ausdruck verleihen. Und dabei operieren sie bisher noch in einem gesetzlosen Raum. Erst jetzt wird ein neues Pressegesetz in den Komissionen des obersten Sowjet diskutiert.
Die alten Dissidentenparagraphen aber - die über „wissentliche Verbreitung falscher Behauptungen“ und „Verleumdung der Sowjetunion“ - wurden erst Anfang 1989 aufgehoben und ließen sich bis dahin mühelos auf fast alle Enthüllungen von Mißständen anwenden. Journalist sein hieß deshalb immer noch, am Rande der Legalität zu stehen. Noch vor kurzem hatten manche Journalisten ihr Köfferchen gepackt, für alle Fälle sozusagen, der drohenden Verhaftung wegen.
Mehr als einem ausländischen Kollegen haben sowjetische Redakteure in den letzten Jahren Beiträge und Leserbriefe übergeben, die sie selbst nicht veröffentlichen konnten und haben uneigennützig Kontakte arrangiert, um der Wahrheit ans Licht zu verhelfen.
Am Anfang stand das Wort „Glasnost“
Am Anfang stand das Wort, und es hieß „Glasnost“. Es wird, wenn überhaupt, meist unzureichend mit „Transparenz“ oder „Offenheit“ übersetzt. Daher die im Deutschen so häufigen Wortspiele mit dem Homonym „Glas“. Tatsächlich leitet sich der schillernde Begriff aber von der altkirchenslawischen Variante des russischen „Golos“, das heißt „die Stimme“, ab.
Das Wort signalisierte den Völkern der Sowjetunion, daß sie ihre Stimmen erheben „durften“ zu verkünden, was bisher tabu war. Das Bewußtsein des „Erlaubten“ klingt im Begriff der „Glasnost“ ebenso laut mit wie die „Stimme“. Was aber extra erlaubt werden muß, gilt immer noch per se als verboten.
Als Kompromiß war sie ein genialer Schachzug, gewiß hat sie eine Dynamik entwickelt, von der sich ihre Initiatoren nichts träumen ließen. Wahrscheinlich ist Glasnost von allen gesellschaftlichen Entwicklungen in der UdSSR der letzten Jahre am wenigsten umkehrbar.
Glasnostmüdigkeit
macht sich breit
Glasnostmüdigkeit macht sich zwar unter den Sowjetbürgern heute nicht nur deshalb breit, weil viele unter der ständigen Desillusionierung durch die Presse leiden: Mindestens ebensoviele glauben, es werde noch immer mehr verschwiegen als publik gemacht.
Zeitschriften wie 'Ogonjok‘ oder 'Znamja‘, Tageszeitungen wie die 'Komsomolskaja Pravda‘, ja sogar die elektronischen Medien in der Sowjetunion haben sich einen Spielraum erobert, der 1990 unvergleichlich größer ist, als Mitte der achtziger Jahre. Wer aber meinte, so etwas wie die verzögerten und unzureichenden Informationen über den Reaktorunfall von Tschernobyl sei nicht mehr möglich, den mußte das wochenlange Schweigen in den Fernsehnachrichten über die Entwicklung in der DDR eines Besseren belehren.
„Täglich hab‘ ich das Gefühl, vor einem Meer von Informationen zu sitzen, das keinen Abfluß hat“, stöhnt die Redakteurin einer großen überregionalen Zeitung: „Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviele gute Beiträge bei mir in den Papierkorb wandern.“ „Ja“, bestätigt sie, „bei jedem sowjetischen Presseorgan gibt es noch heute ein Zimmerchen für den Zensor“, meistens unterm Dach.
Doch habe die Zensur ihre Bedeutung gegenüber den redaktionellen Restriktionen verloren: „Jeder Redakteur hat bei uns eine schwarze Liste von Themen, über die nichts gebracht werden darf.“
Die Dienstgrade in den offiziellen sowjetischen Presseorganen sind über sechs bis acht Stufen genau parallel zu den Parteirängen gegliedert. Ein Chefredakteur gilt soviel wie ein erster Parteisekretär, sein Stellvertreter soviel wie der zweite. Bei Versetzungen innerhalb der Nomenklatura werden ohne Bedenken zwischen Presse- und Parteiorganen Personen hin- und hergeschoben.
Bei den oberen Rängen fragt da schon kaum mehr einer nach journalistischer Erfahrung. Die Chefredakteure sind denen, die glauben, qua Amt Zeitungsinhalte diktieren zu können, in der Regel durch eine gemeinsame Biographie verbunden. Zu dem Begriff „Telefongerichtsbarkeit“ - den Sowjetbürgern schon lange bekannt - tritt jetzt auch noch „Telefonglasnost“.
Was darunter zu verstehen ist, erklärt mir ein Reporter der beliebtesten Moskauer Lokalzeitung mit über einer Million Auflage: „Etwa fünf- bis zehnmal am Tag greift unser Chef zum Hörer, um sich beim Stadtsowjet über irgendein Detail in einem Artikel rückzuversichern. Er ist nicht etwa ein feiger Schweinehund, sondern er macht sich einfach um unser Kollektiv Sorgen.“
Noch immer
müssen Redakteure
dran glauben
Diesem jungen Mann hat der besorgte Vorgesetzte gerade tagelang die Hölle heiß gemacht, weil er mit einem Beitrag durch die Maschen redaktioneller Aufsicht schlüpfte, nach dem sich jedes westliche Blatt alle zehn Finger lecken würde: Er konnte beweisen, daß eine öffentliche Kundgebung im wesentlichen von bezahlten Jublerchören bestritten wurde
-und wer sie bezahlt hat.
Häufig enden solche Polemiken im Dreieck zwischen Redaktionen, Partei- und Wirtschaftsbossen mit der Entlassung der betroffenen Redakteure. Für das 'Aluminium‘ oder 'Der Maschinenbauer‘, so heißen kleine Betriebszeitungen, die plötzlich über ihr Unternehmen hinaus populär wurden, ein schmerzlicher Prozeß.
Denn sie müssen sich ja für die Konsequenzen, die einen ihrer etablierten Kollegen trafen, verantwortlich fühlen. In einer Reihe von Artikeln haben jetzt Kollegen in der Regierungszeitung 'Iswestija‘, die stärker abgesichert sind, solche Schicksale geschildert. Die spektakulärsten Fälle jedoch werden in der zentralen Presse kaum erörtert:
Der für Ideologie zuständigen ZK-Sekretär Medwedjew legte im November dem Chefredakteur der reformorientierten Zeitschrift 'Argumenty i Fakty‘, Starkov, den Rücktritt nahe - wie die Intelligenzija in Moskau meint - ganz im Sinne von Generalsekretär Gorbatschow.
Anlaß: Das kleinformatige Blättchen mit einer Auflage von 20 Millionen hatte im Herbst eine Meinungsumfrage über die Beliebtheit von Politikern unter seinen Lesern veröffentlicht, bei der radikale Reformer wie Boris Jelzin, Andrej Sacharov und Gawrijl Popov mit großem Anbstand an der Spitze lagen. Unterstützt von seinen Redakteuren, weigerte sich Starkov, zurückzutreten. Er hat es aber geschafft und konnte auf seinem Posten bleiben.
Tatsächlich gefeuert wurde Vladimir Putschkov, Chefredakteur einer Zeitung mit dem heroischen Namen 'Znamja Kommunisma‘ (Banner des Kommunismus) aus dem kleinen Städtchen Noginsk bei Moskau, dem Wahlkreis des prominenten Abgeordneten und Historikers Jurij Affanassjev.
Dessen radikal-oppositionelle Reden hatte Putschkov seinen Lesern in voller Länge dokumentiert. Daß er deshalb entlassen wurde, entbehrt nicht der Ironie, denn das vorläufige Statut des obersten Sowjet verpflichtet die örtliche Presse gesetzlich, die Wähler über die Positionen ihrer Deputierten zu unterrichten.
Die Redaktion von 'Znamja Kommunisma‘ griff zu einer Waffe, mit der die Kollegen von 'Argumenty i Fakty‘ nur zu drohen brauchten: Sie trat in den Streik. Auf dem Höhepunkt dieser Tragikomödie karrte die Kreisleitung der Partei ein Streikbrecherkollektiv aus Mitarbeitern ihrer Zeitung 'Leninskoje Znamja‘ in die verlassene Redaktion. Diese hatten allerdings dort ihre Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, so daß die Aktion vorerst verpuffte.
Daß die Methoden, Journalisten unter Druck zu setzen, raffinierter werden, konstatierte die 'Komsomolskaja Pravda‘ in einem Artikel über Nikolaj Nikiforov aus Tscheboksary an der Wolga, der mit 32 Jahren zu den drei jungen Kollegen gehörte, die letztes Jahr ihre Recherchen über Schwarzmarktmafia und Parteifilz mit einem gewaltsamen Tod bezahlen mußten.
Miserable Arbeitsbedingungen
für Journalisten
Vom Sammeln kompromittierenden Materials über Verwandte, von anonymen Anrufen und Briefen, Erpressung, Bedrohungen bis zu gewalttätigen Provokationen und Gefängnishaft reichen die in dem Artikel aufgezählten Mittel. Am anderen Ende der Skala stehen die feineren „wirtschaftlichen“ Maßnahmen.
Schon die niedrige Bezahlung des journalistischen Fußvolkes in der Sowjetunion - kombiniert mit dem Umstand, daß Spesen, wie Taxifahrten, von den Redaktionen kaum getragen werden öffnet der Bestechung Tür und Tor. Von Computern kann in sowjetischen Redaktionen nicht die Rede sein, ein Aufnahmegerät ist ein Streitgegenstand, eine elektrische Schreibmaschine ein Privileg.
Wenn die von ihrer Technik zermürbten Journalisten einer Zeitung mit Millionenauflage auf eine Standardverbesserung durch die neuerdings erlaubte kommerzielle Reklame hoffen, schauen sie in die Röhre. Die meisten der partei- oder staatseigenen Verlage haben diese Pfründe bis zu einer hohen Einnahmegrenze vor redaktionellem Zugriff gesichert.
Man bekäme auf Versammlungen immer leicht Zustimmung, bemerkte sinngemäß kürzlich ZK-Sekretär Alexander Jakovlev, wenn man über die Presse klage. Die meisten dieser Ankläger täuschten sich, wenn sie meinten, daß mit den Äußerungen der Presse über Mißstände auch deren Ursachen annulliert würden. Jakovlev stellte seine objektiven Beobachtungen auf den Konferenzen innerhalb des Apparates an.
Aber über sechzigtausend Demonstranten forderten seinerzeit in Noginsk die Wiedereinstellung von Vladimir Putschkov als Chefredakteur von 'Znamja Kommunisma‘. Zehntausende sind es insgesamt, die sich im Spätherbst und Winter auf allen größeren Demonstrationen zu allen möglichen Hauptanlässen für ihn und seinen Kollegen Starkov eingesetzt haben. Ihr Standardslogan: „Statt Glasnost - Freiheit der Meinung und des Wortes!“
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