piwik no script img

„Das müßt ihr doch selbst einsehen, Genossen!“

Gorbatschow legt dem erweiterten ZK-Plenum heute eine Plattform vor, in der auf die führende Rolle der KPdSU verzichtet wird / Auf dem Weg zum Mehrparteiensystem? / 100.000 bei einer Demonstration demokratischer Kräfte gegen Nationalismus und Chauvinismus  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Im Gegensatz zu internationalen Spekulationen über einen möglichen Rücktritt Gorbatschows als Führer der KPdSU auf dem heute beginnenden erweiterten Plenum des ZK der Partei konzentriert sich nach Meinung sowjetischer Beobachter das Plenum auf die Frage, wie weit dieses Ereignis die Partei näher an eine innere Demokratisierung und den Staat an ein Mehrparteiensystem heranführen könnte. Die Plattform, die der Generalsekretär einer Radio-Moskau-Meldung vom Samstag zufolge heute dem Plenum zur Abstimmung vorstellen will, bestätigt entsprechende Hoffnungen.

Dem Ziel eines „humanen, demokratischen Sozialismus“ soll zukünftig ein Statut dienen, demzufolge die Partei auf konstitutionelle Extrawürste verzichtet - wie den jetzigen Verfassungsartikel 6, der ihre „führende Rolle“ vorsieht. Bei Gorbatschow heißt es: Die Partei muß selbst einsehen, daß Art.6 der Verfassung antikonstitutionell ist. Für ihre führende Rolle wolle die Partei allerdings weiterhin „kämpfen“, heißt es.

Von einem Mehrparteiensystem ist zwar in dem Dokument nicht explizit die Rede, doch der Monopolanspruch ist brüchig geworden. Dem Entwurf zufolge soll sich das ZK künftig aus 200 Mitgliedern zusammensetzen, von denen zehn Prozent zwischen den Parteitagen kooptiert werden. An Stelle des bisherigen Politbüros, in dem nur Vertreter slawischer Völker sitzen, ist ein „Politisches Exekutivkomitee“ aus Repräsentanten aller Unionsrepubliken vorgesehen. Eine solche Lösung ermöglichte als erster Schritt auch einen späteren föderativen Aufbau der KPdSU als Koalition selbstständiger Parteien in den einzelnen Sowjetrepubliken, wie sie z.B. die baltischen Staaten fordern.

Den entscheidenden Druck in Richtung auf radikale Reformen innerhalb und außerhalb der Partei gab hier seit dem Sommer der Moskauer Parteiklub, der letzten Monat auf einem Gründungskongreß mit Abgeordneten aus über 100 Städten die Initiative „Kommunisten für eine demokratische Plattform auf dem 28.Parteitag“ gründete. Die Existenz dieser organisierten Gruppe schuf neue Tatsachen oder, wie es kürzlich der Direktor des Institutes für Marxismus -Leninismus beim ZK der KPdSU, G.L.Smirnow, in einer 'Prawda'-Diskussionsrunde giftig ausdrückte: „Vorige Woche bildete sich eine Partei... Im Rahmen unserer Partei. Während wir noch über das Mehrparteiensystem streiten, ist sie zu einer Tatsache geworden.“

Der neue Gorbatschow-Entwurf sieht zwar einen gewissen Minderheitenschutz innerhalb der Partei vor, will aber Fraktionen noch keineswegs anerkennen. Daß aber die Stärke der „Demokratischen Plattform“ bereits die Führung stillschweigend oder vielleicht sogar explizit zu ihrer Anerkennung zwingt, steht außer Zweifel. In ZK-Sekretär Alexander Jakovlev, der als Verantwortlicher für Ideologie das neue Diskussionspapier maßgeblich mitbeeinflußt haben dürfte, sehen viele „Plattform-Mitglieder“ schon fast einen der ihren. Dennoch geht ihre Programmatik weit über die Gorbatschows hinaus. Als wichtigster Punkt sei hier die Forderung nach freien, gleichen und geheimen Wahlen innerhalb der Partei genannt und die Einberufung eines Runden Tisches mit anderen gesellschaftlichen Kräften, um Wege aus der sozialen und nationalen krise des Imperiums zu suchen.

Für diese Forderung und gegen den Gorbatschow-Plan hat sich nach Berichten von Mitarbeitern am Sonnabend in einer dramatischen Sitzung das Parteikomitee eines der größten wissenschaftlichen Institute der Sowjetunion ausgesprochen, des Moskauer Kurtschatov-Institut für Atomenergie. Einige Abteilungen des Instituts beschlossen, bis auf weiteres keine Mitgliedsbeiträge mehr an die Partei abzuführen, sondern diese Gelder für die Organisation eines vorgezogenen Sonderparteitages (der reguläre soll im Oktober stattfinden) zu sammeln. Der populäre Wunsch nach einer baldigen Sitzung dieser höchsten Entscheidungsinstanz der Partei fand in dem neuen Programm ebenfalls keine Aufnahme.

Im Vorzeichen des ZK-Plenums und der für März angesetzten Wahlen zum Obersten Sowjet der RSFSR hatten Vertreter der kommunistischen „Plattform“, der Moskauer Wählerklubs, der Armeegewerkschaft „Schtschit“, der Gesellschaft „Memorial“ und anderer demokratischer Organisationen zu einer Massendemonstration gegen chauvinistische und nationalistische Tendenzen und für eine Beschleunigung der gesellschaftlichen Umgestaltung aufgerufen. Bei strahlendem Sonnenschein und in bester Laune sammelten sich am Sonntag vormittag schon am Ausgangspunkt dieser Kundgebung, vor den weißen Kunsthallensäulen an der Moskauer Krimskij-Brücke, etwa 15.000 Teilnehmer. Etwa noch einmal soviele Menschen schlossen sich der genehmigten und im Fernsehen angekündigten Demonstration auf ihrem Weg zum Moskauer Stadtsowjet an. Bei dem fröhlichen Bürgerspaziergang von Jung und Alt kam der Verkehr in der Moskauer Innenstadt zeitweise zum Erliegen. Vom blauen Andreaskreuz auf weißem Grund der Russischen Volksfront bis zu den schwarzroten Fahnen der Anarchosyndikalisten leuchtete eine breite Regenbogenskala politischer Embleme auf. Neben den von den Veranstaltern ausgegebenen Losungen: „Gestern Tbilissi, heute Baku - morgen Moskau?“, „Für Öffentlichkeit des ZK -Plenums“ waltete bei der Gestaltung der Transparente auch viel eigene Phantasie: „Kein Informationsmonopol, die Chefs von Gosteleradio in den Ruhestand!“ hieß es da oder: „Der Parteiapparat ist KGB-Chef, Mafia-Pate und Pamjat -Schutzpatron zugleich“. Bei der Abschlußkundgebung sagte vor 100.000 Teilnehmern der Wirtschaftswissenschaftler Popow: „Die Demonstration hat bewiesen, daß sich die Staatsführung auf demokratische Kräfte stützen kann, die eine reale Macht darstellen, auch wenn sie sich später als die Konservativen zusammengeschlossen haben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen