„Flagge zeigen“ - verfassungstreu

■ taz-Reporter fuhr mit Vopo-Streife durch Berlin-Mitte / Erlebnisse und Gespräche an einem Nachmittag im Lada und im Revier / Mord und Todschlag a la West-TV blieben bislang aus...

Das Funkgerät schweigt. Im Schritttempo schleicht der weiß -grün lackierte Lada mit Oberwachtmeister Michael Seegert und Edgar Weber mit mir auf dem Rücksitz über das Kopfsteinpflaster. An einer Bushaltestelle warten zwei Leute. Sie lassen sich nicht von dem „Funkstreifenwagen“ verunsichern, der sich bedrohlich langsam nähert. Die beiden Volkspolizisten fahren vorbei und warten ein paar Straßen weiter für fünf Minuten vor einer Gaststätte. „Flagge zeigen“, nennt Seegert dies. Das Funkgerät schweigt weiter...

Weber erzählt, daß er „immer ehrliche Arbeit gemacht hat“. Daß er wie auch seine Kollegen bei dem Mann auf der Straße nun freundlicher behandelt werden, seitdem die Mauer gefallen ist, fällt ihm deshalb schwer zu verstehen. Und dann regt er sich über die „einzelnen Kollegen“ auf, die Demonstranten im vergangenen Oktober mißhandelt haben. Die müsse man „zur Verantwortung ziehen“. Und auch darüber, daß die Übergriffe „stark verallgemeinert“ würden. Weber war am 40. Geburtstag der DDR auf dem Alex. Irgendwann mußte er dort Protestler räumen. In seiner Umgebung sei alles friedlich und ohne Widerstand abgelaufen, erzählt er. Ansonsten bleiben sie bei Fragen nach der Zeit vor dem 9. November den gesamten Nachmittag zugeknöpft.

Von der Gaststätte geht es zurück ins Revier 13 in die Wadzcekstraße. Schichtpause. Im Gemeinschaftsraum nimmt Seegert ein Flugblatt vom „Wandzeitungs„-Brett ab. „Wir wollen Beamte werden, für unser Volk, parteiunabhängig und verfassungstreu“, schreibt dort die neugegründete „Gewerkschaft der Polizei“. Die Personalvertretung will den Polizeiapparat ändern, und sie will auch „helfen, die Ereignisse um den 7. und 8. Oktober aufzuklären“. Das Flugblatt wird weitergereicht, der Letzte heftet es wieder an das Schwarze Brett. Pausenende.

Im „Toni„-Wagen (Funk-Jargon) meldet sich die Zentrale vom Polizeipräsidium. In einer Sparkasse ist Alarm ausgelöst worden. Seegert tritt aufs Pedal - und wir hören endlich auf, so langsam durch die Straßen zu schleichen. Das Blaulicht bleibt aus. Ansonsten wäre dafür der Befehl aus der Funkzentrale gekommen. An der geschlossenen Filiale an der Karl-Marx-Straße können Seegert und Weber nichts Auffälliges feststellen. Wir warten auf die Fußstreife, die ablöst und dann warten soll, bis eine Bankangestellte mit dem Schlüssel kommt. Vor der Bank läuft ein kleines Mädchen an uns vorbei: „Hilfe, Hilfe, der jagt mich!“ Ihr Spielkamerad bleibt in einiger Entfernung mit seinem Fahrrad stehen.

Über den Straßen des Bezirks Mitte wird es langsam dunkel. Wir schleichen weiter in ihnen herum. Seegert und Weber halten die Augen auf und suchen einen schwarzen Lada-Samara. Diebstahl. „Ungewöhnliche Farbe“, denkt Seegert laut nach. „Schwarze Autos gibt es bei euch im Westen bestimmt öfter“, fragt er mich. Ich verneine. Worauf achten die beiden sonst noch, außer auf geklaute Fahrzeuge, frage ich. Auf Autoeinbrüche, auf Leute, die etwas Verdächtiges mit sich herumtragen, auf abgerissene Hörer bei Wandtelefonen...

Wir halten wieder. Eine Viertelstunde sitzen wir im Polizeiwagen im Schatten des S-Bahnhofes Alexanderplatz. Im Wagen wird es kalt. Neben uns eine Gaststätte. „Flagge zeigen“, denke ich. Vor uns der Fernsehturm. Ein angetrunkener Endvierziger kommt in seinem grünen Parka angetorkelt und zeigt Seegert stolz einen Walkman. Der Polizist kurbelt das Fenster runter. „Wo hast‘ denn den her?“ fragt er. „Aus'm Wedding“, antwortet die besoffene Gestalt und will anfangen, seine Lebensgeschichte an die beiden Polizisten loszuwerden. „Zwölf Jahre habe ich gedient...“, legt er los und lehnt sich gewichtig an die Wagentür. „Du, brech mir den Spiegel nicht ab“, bittet Seegert freundlich. „Ach, hör doch auf“, krakeelt der Mann im Parka, „kannst‘ dir im Westen einen neuen kaufen.“ Dann verschwindet er auf dem weiten Platz.

Weber steigt aus und kommt zehn Minuten später mit einem achtjährigen Knirps zurück. „Bist wohl zuviel spazieren gegangen?“ fragt Weber vom Vordersitz und dreht sich dabei nach hinten. Freundlich gucken Webers Augen unter der Schirmmütze hervor. „Wollt‘ noch ein bißchen auf'm Alex bleiben“, antwortet der Kleine wortkarg vom Rücksitz neben mir. „Fahren Sie den nach Hause“, kommt über Funk. „Schimpft deine Mutti, wenn du mit dem Polizeiwagen nach Hause kommst?“ fragt Weber. „Weiß nicht“, kommt es von hinten.

Die Oma schimpft. Sie ist völlig aufgelöst, und die Eltern sind bereits los, ihn suchen. „Tausendundeinmal haben wir ihm erzählt, daß er nicht weglaufen soll“, sagt die ältere Frau verärgert zu den Polizisten, „aber das geht hier rein und da raus.“ „So, ausziehen und ins Bett, hat Vater gesagt“, richtet sie ihrem Enkel aus, „und wenn Vater kommt, holt er dich raus, dann kannst du was erleben.“ Der Junge steht stumm in der offenen Wohnungstür. Mit einem leisen Grinsen guckt er auf meinen Fotoapparat und auf die beiden Uniformierten. Abenteuer Ausreißen.

Wir fahren zurück zum Revier. Schichtpause. Ich frage Seegert, was die einzelnen Symbole auf seiner Brustspange bedeuten. Eins für fünf Jahre Dienst, eins für zehn Jahre und eins als Auszeichnung für „besondere Arbeitsleistung“, erklärt er auffällig leise. Ein Kollege ruft vom anderen Tisch herüber, diese Auszeichnung ginge „nach Nase“, wäre für „Angehörige einer besonderen Gruppe“. Später im Wagen erklären mir Weber und Seegert, daß mit „besonderer Arbeitsleistung“ allgemeines Auftreten, Sauberkeit und Loyalität gemeint seien. Über sie beide hätten Bürger sich bisher noch nicht mit einer „Eingabe“ beschwert. Kollegen, die diese Auszeichnung nicht bekämen, würden aber schnell behaupten, den Orden bekämen jene, die ihre Meinung nicht sagen, sondern in den „Ton des Vorgesetzten verfallen“. Der Kollege aus der Pause würde nur nicht erzählen, wieviel Probleme er mit Bürgern gehabt habe.

Wir stehen wieder auf dem Alex. Zwei Bulgaren wollen wissen, wie sie auf die Autobahn nach Süden kommen. Seegert steigt aus. Als sie gegangen sind, erklärt er mir: „Aussteigen ist eine Frage der Höflichkeit.“ Dann zeigt er mir bestimmte Plätze am Alex. „Immer wenn Parteitag war, hat da ein Streifenwagen gestanden. Da, da und da. Zivile waren auch unterwegs.“ Einmal hat Seegert überlegt zu kündigen. Er war damals im Fußstreifendienst an der Mauer eingesetzt. Hatte einen 50-Meter-Streifen, auf dem er tagelang, wochenlang hin und her und her und hin gehen mußte. „Und wehe, du hast diesen Bereich verlassen“, erinnert er sich. Jetzt sei ein „gewisser Druck“ weg. Daß die Stasi vollständig aufgelöst wurde, finden beide nicht gut. Die Polizei hätte bisher keine Erfahrung mit Bombendrohungen, und die würden in letzter Zeit rapide zunehmen.

Was allerdings wider ihren Erwartungen nicht zugenommen hat, ist die Kriminalität aus dem Westen. „Uns wurde immer gesagt, da drüben herrschen Mord und Totschlag“, versucht Weber seine Angst zu begründen - „zugenommen haben bisher aber nur die Verkehrsunfälle.“

Dirk Wildt