Mit bunten Luftballons für das Alphabet

■ Mit Luftballon-Kärtchen wollten Westberliner Analphabeten gestern Mut zum Lesen und Schreiben machen

Mit einem etwas ungewöhnlichen Auftritt haben Vertreter vom Verein „Lesen und Schreiben“ gestern mittag das internationale Alphabetisierungsjahr 1990 der Vereinten Nationen eingeläutet. Tausend gasgefüllte Luftballons mit Antwortkarten sollten eigentlich am Breitscheidplatz in Richtung Osten starten, doch starke Sturmböen und Schauerregen ließen die Luftballons den Schaulustigen nur so um die Ohren knallen. Sicher vertäut an Autos oder sogar festgebunden an den Gürteln der Veranstalter, konnten die Trauben bunter Ballons am Wegfliegen gehindert werden. Acht Stunden sollte ihre „Flugzeit“ mindestens betragen.

Groß angekündigt wurde die Aktion nicht. Auf dem „zentralen Öffentlichkeitsplatz“ vor der Gedächtniskirche sorgte sie trotzdem für große Aufmerksamkeit. Ziel der „spontanen Einführungsaktion“ sei es, so Harald Schröder vom Verein „Lesen und Schreiben e.V.“, die Finder dieser Karten damit zu konfrontieren, daß es auch bei uns, in einem der führenden Industrieländer, Menschen gibt, die Probleme mit Schreiben und Lesen haben und damit täglich auf große Hindernisse stoßen. „Wir wollen das Problem an die Öffentlichkeit bringen, weil sich die Leute immer noch nicht trauen“, meint Schröder.

Vor sieben Jahren hat eine Gruppe von Alphabeten und Analphabeten den gemeinnützigen Verein gegründet. Betroffene können hier an Lerngruppen teilnehmen, in denen Lesen und Schreiben unterrichtet wird, aber auch Anleitungen für Behördengänge gegeben werden. Zusammenarbeit findet auch mit den Volkshochschulen, dem Legasthenieverband und dem Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe statt.

Thomas Henning (21) ist seit zwei Jahren Mitglied des Vereins. Verständnislose Beamten sind ihm gut bekannt. „Oft steh‘ ich bei den Ämtern blöd da. Ich wollte auf dem Arbeitsamt einen Termin ausmachen, da sagt der zu mir: 'Soll ich Ihnen den Termin aufschreiben, oder können Sie sich den wenigstens merken?'“ Verunsichert fühlt er sich, sagt er, oder er bekommt eine ordentliche Wut.

Nach einer Schätzung von Unesco leben in der Bundesrepublik drei Millionen Analphabeten. Unregelmäßiger Schulbesuch bei unzureichender fachlicher Betreuung, schwierige Familienverhältnisse aber auch zu spät oder nicht erkannte Seh- und Sprachstörungen bei Kindern können die Lernhemmungen und -schwierigkeiten beeinflussen. Einen „guten Anlaß“, die Luftballons steigen zu lassen, sah auch die Senatorin für Gesundheit und Soziales, Ingrid Stahmer, im Auftakt zum internationalen Alphabetisierungsjahr. Die stellvertretende Bürgermeisterin sprach das Grußwort des Senats auf der Veranstaltung.

Kurz vor halb ein Uhr mittags, stiegen die Luftballons auf. Es blieben nicht viele übrig: Die meisten verfingen sich vor dem Aufsteigen in den Bäumen oder zerplatzten. Starke Windböen rissen sie in Richtung Zoo fort. Dann blies der Wind aus Südwest und trieb sie direkt nach Ost-Berlin. Wieviele Menschen dort Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, ist nicht bekannt.

Julia Schmidt