: Moskau gibt Deutschlandpolitik auf
Mit dem Ergebnis des Treffens zwischen Kohl und Gorbatschow hat die sowjetische Führung bestätigt, daß sie in Sachen Deutschlandpolitik nur noch reagiert und nicht mehr den Ton angibt. Ihr Bedeutungsverlust als Ordnungsfaktor in Ost -Mitteleuropa ist fundamental. Mit den Konsequenzen, die sich aus einer Öffnung der DDR ergeben könnten, haben entscheidende Kreise in Moskau offensichtlich nicht gerechnet. Noch im September 89, als sich die Zeichen einer Bankrotterklärung des DDR-Regimes häuften, hieß es dazu in Moskau, eine Infragestellung der europäischen Nachkriegsordnung stehe nicht an. Auch in seinem Buch Perestroika hatte Gorbatschow 1987 die Deutsche Frage noch in den Bereich der Futurologie verwiesen: „Was hier historisch geformt wurde, sollte am besten der Geschichte überlassen bleiben. Das gilt auch für die Frage nach der deutschen Nation und Formen deutscher Eigenstaatlichkeit. Was in hundert Jahren sein wird, das soll die Geschichte entscheiden. Für die Gegenwart sollte man von den bestehenden Tatsachen ausgehen und sich nicht zu Spekulationen hinreißen lassen“.
Noch beim Treffen Gorbatschow-Kohl Ende 88 warnte der sowjetische Parteichef davor, die „Entwicklung durch unrealistische Politik zu forcieren“. Das kontrastierte im Januar 89 auf der KSZE-Konferenz in Wien Außenminister Schewardnadse mit der Bemerkung, es sei zu überlegen, ob die historischen Gründe für die Existenz der Mauer weiter gegeben seien.
Für Honecker war dies bereits eine Warnung, die UdSSR könnte ihre Position in der Berlin-Frage geändert haben. Er konterte mit seinem „100-Jahre-Mauer-Zitat“. Wesentlich vorsichtiger wurden die Töne am Abend der SED-Herrschaft im September/Oktober 89. Mit aller Deutlichkeit wies Gorbatschow darauf hin, die UdSSR werde sich allen widersetzen, die versuchten, die „Souveränität der DDR und deren Unabhängigkeit anzutasten“. Ihm folgte Schewardnadse mit dem Hinweis, „Kräfte des Revanchismus“ in der BRD zielten darauf ab, die Nachkriegsordnung zu zerstören. Nach der Maueröffnung am 9.November zeigte sich das offizielle Moskau höchst alarmiert und versuchte die Vorbehalte der Viermächte gegenüber einem wiedervereinigten Deutschland für sich zu instrumentalisieren. Gegenüber seinem französischen Amtskollegen äußerte Schewardnadse: „Es handelt sich hier um das Bestreben, die Existenz eines souveränen Staates, der Deutschen Demokratischen Republik, ja sogar der territorialen Ordnung auf dem Kontinent insgesamt in Frage zu stellen.“ Und Gerassimow forderte die Teilnehmer des Wirtschaftsgipfels auf, „die Aufrechterhaltung der Stabilität und der Grenzen zu befürworten“.
Auch für Gorbatschow stand in der zweiten Novemberhälfte die Frage einer Wiedervereinigung noch nicht auf der Tagesordnung: „Ich glaube nicht, daß die Wiedervereinigung dieser Staaten eine Sache der aktuellen Politik ist. Europäische Realitäten sind vor allem zwei deutsche Staaten und die zwei Militärblöcke.“ Kohls Zehn-Punkte-Programm erntete ebenso harsche Kritik, deren Essenz Außenamtssprecher Gerassimow zu der bedrohlichen Vision eines „Vierten Reiches“ inspirierte.
Im Dezember, als auch in der CSSR die KP auf ihre Führung verzichten mußte und es klar war, daß nur noch eine gewaltsame Lösung die Vorgänge in Mitteleuropa bremsen und die sowjetische Hegemonie retten könnte, änderte dann auch Gorbatschow seine Position: „Es gibt natürlich ein Problem, das sich jetzt offensichtlich mehr herauskristallisiert hat, nämlich das Problem der Wiedervereinigung. Und die Geschichte soll darüber befinden, wie das Schicksal der Zukunft dieses Kontinents aussehen soll.“ Um noch einmal unter Beweis zu stellen, daß sich Moskau die Initiative nicht aus der Hand nehmen lasse, rief der sowjetische Vertreter im Dezember die Alliierten im Berliner Kontrollratsgebäude zusammen. Anlaß war die über zwei Jahre zurückliegende Berlin-Initiative des vormaligen amerikanischen Präsidenten Reagan. Das war auch der Startschuß für eine andere Denkrichtung, die es schon zuvor in der sowjetischen Politik gegeben hatte. Zu ihr zählen der Berater im ZK der KPdSU, Portugalow, und der Abteilungsleiter im Institut für die Ökonomie des sozialistischen Weltsystems, Daschitschew. Letzterer bezweifelte schon vor der Öffnung der ungarischen Grenze, daß „die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten am besten den sowjetischen Interessen und der Aufrechterhaltung der deutschen Sicherheit diene“. Wenn es auch bisher nicht sonderlich klar geworden ist, scheint hier eine Position an Terrain zu gewinnen, die in einer Wiedervereinigung tatsächlich Vorteile für die Sowjetunion sieht. Ein erster Hinweis darauf könnte Kohls Andeutung gewesen sein, die BRD werde die Lieferverpflichtungen der DDR gegenüber der Sowjetunion übernehmen. Doch in Moskau wird nur noch aus der Not eine Tugend gemacht. Eine sowjetische Deutschlandpolitik gibt es derzeit nicht.
Klaus-Helge Donath
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