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Erinnerung an die Theorie

■ Ein deutscher Intellektueller ohne Positivitätsdrang: Herbert Marcuse

Wolfram Stender

Die Neue Linke ist nicht gescheitert; gescheitert sind ihre aus der Politik geflohenen Anhänger.“ - Als Marcuse dies 1975 konstatierte, hatten nur wenige noch ein klares Bewußtsein davon, was eigentlich das Neue an der Neuen Linken ausmachte. Heute weiß kaum noch jemand, was links ist. Der am 29.Juli 1979, gestorbene „Neue Linke“ Herbert Marcuse, seine theoretische Kritik und seine politische Praxis sind vergessen.

Aber so wie die politische Linke in diesem Jahrhundert sich erneuern mußte, wenn sie nicht verschwinden wollte, so muß sie sich heute dieser Erneuerung, für die das schlechte Wort „westlicher Marxismus“ gefunden wurde, erinnern, wenn sie nicht ganz der Demoralisierung und Verdummung verfallen will.

Unter dem Motiv der Erinnerungsarbeit stand deshalb eine überraschend gut besuchte Arbeitstagung, zu der die Redaktion der Zeitschrift 'links‘, die Tübinger Stadtzeitung 'Tüte‘ und die 'Linke Liste‘ an der Uni Frankfurt am 13./14.Oktober 1989 in Frankfurt eingeladen hatten. Thema: „Herbert Marcuse - 'kritischer Theoretiker der Emanzipation‘ (H.J.Krahl)“.

Wie sehr aber der soziale Gedächtnis- und Phantasieverlust auch auf den etwa 400 Erinnerungswilligen dieser Tagung lastete, zeigte sich spätestens auf der abschließenden Podiumsdiskussion „Das Ende der Utopie?“: Als der grüne Unterhaltungspoltiker Joschka Fischer das Publikum aufforderte, sich endlich von diesem verstaubten Restposten des 19.Jahrhunderts namens Marcuse zu verabschieden, denn zum Kapitalismus gäbe es keine Alternative, war Stille im Saal. Dieses Verstummen der sonst munteren Versammlung kann als symptomatisch begriffen werden für das gegenwärtige (Nicht-) Verhalten der westdeutschen Restlinken: ein ebenso sprach- wie hilfloses Ducken vor dem Triumphgeschrei spätkapitalistischer Agitatoren und Apologeten, die angesichts des Zusammenbrechens des „real existierenden Sozialismus“ nicht nur die Idee des Sozialismus, sondern gleich alle Kritik und konkrete Utopie verabschieden wollen. Dieses Ducken aber ist ein „Ende der Utopie“ eigener Art: blank antiutopisch. Als hätte es nie etwas anderes gegeben als das anachronistische Konkurrenzdenken zwischen Ost und West! Wer Anti-West sagt, sagt Pro-Ost - und umgekehrt? Überhaupt nicht wahr! Das Neue an der Neuen Linken war gerade die Kritikbeider Gesellschaftssysteme. Die Idee der Emanzipation dem Konkurrenzkampf zwischen den Blöcken entrissen zu haben, darin lag eine ihrer Leistungen.

Befreiung! - im profitgesteuerten Universum des Industrialismus ist sie allein noch denkbar als ein sozialer Fortschritt, der jenen blockübergreifenden Fortschrittsbegriff bestimmt negiert, „der nicht eine Welt begreift, in der Auschwitz immer noch möglich ist“ (Marcuse 1979). Diesem nach Form und Inhalt anderen Fortschrittsbegriff liegt die Idee einer Kultur ohne überflüssige Unterdrückung zugrunde, in der das Menschenrecht auf Glück im Zentrum aller politischen und sozialen Bemühungen zu stehen hätte. Eine „neue“ Idee der Befreiung

„Konzentrationslager, Massenvernichtung, Weltkriege und Atombomben sind kein 'Rückfall in die Barbarei‘, sondern die hemmungslose Auswirkung der Errungenschaften der modernen Wissenschaft, Technik und Herrschaftsform über Menschen.“ (Marcuse 1955) - Diesen Zusammenhang in seiner ganzen Komplexität zu erkennen und nicht nur subjektiv zu „fühlen“, ist die ernorme Aufgabe, der eine Theorie der Emanzipation heute sich zu stellen hat. Dabei muß sie der geschichtlichen Erfahrung Rechnung tragen, daß die Individuen bis ins Knochenmark Produkte des gesellschaftlichen Zusammenhangs sind und diesen in ihren Bedürfnissen reproduzieren, selbst durch Revolutionen hindurch. „Die Konterrevolution ist in der Triebstruktur verankert“, formuliert es Marcuse 1969 im Rückgriff auf Freud. Diese Einsicht in die beinahe „biologische“ Tiefendimension von Herrschaft verlangt danach, auch die Vorstellung von Befreiung zu „vertiefen“, zu radikalisieren. Gefühle, Affekte, Körperlichkeit, Denkneigungen und -formen

-die historisch gewordene Zweite Natur muß in die Arbeit der Befreiung einbezogen werden, wenn diese gelingen soll. „Ziel radikaler Veränderung heute ist die Entstehung von Menschen, die weder physisch noch geistig in der Lage sind, ein neues Auschwitz zu erfinden.“ (Marcuse 1977)

Eine Art Eichmaß für dieses Vorhaben erkannte Marcuse in der ästhetischen Dimension. Sie bricht mit der Normalität der Schönen Neuen Welt und bewahrt so, im Widerstand gegen sie, das Versprechen des Glücks. „Eine Welt menschlicher Verhältnisse, die nicht mehr durch den Markt vermittelt sind, nicht auf wettbewerblicher Ausbeutung oder Terror beruhen, erheischt eine Sensitivität, die von den repressiven Befriedigungen der unfreien Gesellschaften befreit ist; eine Sensitivität, die für jene Formen und Eigenschaften der Wirklichkeit empfänglich ist, die bislang nur mittels ästhetischer Phantasie entworfen wurden: denn die ästhetischen Bedürfnisse haben ihren eigenen sozialen Gehalt; sie sind Ansprüche des menschlichen Organismus, Geistes und Körpers auf eine Erfüllung, die nur im Kampf gegen die Institutionen erzielt werden kann, die durch ihr Funktionieren diese Ansprüche verneinen und verletzten.“ (Marcuse 1969) Den Menschen in der Freiheit eignete eine ästhetische Moral, der es unmöglich wäre, irgendeine andere Repression zu dulden als jene, die zum Schutz und zur Verbesserung des Lebens erforderlich ist. Der Sozialismus, wie Marcuse ihn begriff, wird ein ästhetisches Ethos haben, oder er wird nicht sein.

Das Ästhetische als die Form einer freien Gesellschaft, in der Vernunft und Sinnlichkeit, Trieb und Moral versöhnt sind - dies die Konsequenz eines unbeirrt an dem Anspruch auf leidfreien Frieden festhaltenden Intellektuellen aus der Kette niederschmetternder Erfahrungen, die er als Zeitgenosse des 20.Jahrhunderts machen mußte. Eine wirklich radikal-utopische Idee. Aber die radikale Transzendenz darauf insistierte Marcuse - ist heute zu einer konkreten Möglichkeit gerworden, ja mehr noch: zu einer Frage der Selbsterhaltung der Gattung. Denn das spätkapitalistische Universum, das die Macht zu haben scheint, Erinnerung und Zukunft auszulöschen und den Widerspruch und das transzendierende Bedürfnis zu liquidieren, hat zugleich die Voraussetzungen geschaffen für „das Ende der Utopie“ (Marcuse 1967). Doch der realen Möglichkeit der ästhetischen Form steht die Universalisierung der Warenform schroff entgegen. Der Möglichkeit eines ästhetischen Realitätsprinzips steht die starre Aufrehterhaltung des historisch vollkommen obsoleten, aber der entfremdeten Arbeit gemäßen Leistungsprinzips - eines Prinzips der Unterdrückung und letztlich Zerstörung innerer und äußerer Natur - entgegen.

So ist das Utopische so nah wie nie zuvor, und scheint doch zugleich unerreichbar. Es zu denken, scheint abstrakt, ist aber konkret. Zur Arbeit der Befreiung gehört heute unabdingbar der Entwurf von Bildern der Befreiung: konkreten Utopien. Ein „neuer“ Typus des

Intellektuellen

Der Erneuerung emanzipatorischer Zielinhalte durch die Neue Linke korrespondierte eine neue politische Praxis. Die Chiffre '68 ist verschiedentlich in die Metapher „Stunde der Intellektuellen“ übersetzt worden. Darin steckt etwas Richtiges: es waren Jahre der Politisierung und Radikalisierung von Intellektuellen. Das Entsetzen und die Wut angesichts der US-Bombengeschwader über Vietnam ließen viele jüngere, aber auch ältere Intellektuelle die Mauern des denkenden Aufstands durchbrechen. „Ungehorsam ist Bürgerpflicht“ - ja, aber auch der eigene Beruf, die eigene Wissenschaft, der eigene Arbeits- und Lebenszusammenhang mußten Gegenstände tätiger politischer Reflexion werden. Es waren Neue Linke, die handelnd erkannten, daß es keine praxislose, verantwortungslose, wertfreie Wissenschaft gibt, daß jeder Wissenschaftler, jeder intellektuelle Arbeiter in den gesellschaftlichen Schuldzusammenhang verstrickt ist und zwar umso tiefer, je weniger Rechenschaft er sich darüber ablegt. Sie erkannten ihre eigene Lage: daß auch ihre Arbeit der universalen Enteignungstendenz des Spätkapitalismus unterworfen ist, nach Gesichtspunkten der Kapitalverwertung, Produktivität und technologischer Effizienz umorganisiert wird. Hatten die Intellektuellen in der Vergangenheit versucht, andere zu organisieren, so zwang sie nun die veränderte geschichtliche Konstellation zu der naheliegenden Einsicht, daß es nicht nur möglich, sondern auch nötig ist sich selbst zu organisieren. Es war eine Arbeit theoretischer-praktischer Selbstaufklärung mit dem Ziel, überhaupt erst die Voraussetzungen zu schaffen für eine wirkliche Autonomie der Wissenschaft.

Herbert Marcuse antizipierte diese „neue“ politische Identität, noch bevor sie sich in der Intellektuellenbewegung der sechziger Jahre verbreiterte. Seine Arbeit verstand er immer als Bestandteil befreiender Praxis. Theorie befindet Praxis nicht als zu leicht und distanziert sich in der Form kontemplativer Kritik, sondern muß ihr zu ihrem Ausdruck verhelfen. Es ist ein Verhältnis der kritischen Auseinandersetzung, nicht der Denunziation. Als beispielhaft sei hier der Versuch über die Befreiung von 1969 genannt: ein Stück lebendiger, geradezu „un„ -akademischer Theoriebildung; Resultat eines intellektuellen Arbeitsprozesses, in dem Reflexion und politische Intervention nicht starr voneinander getrennt sind, sondern sich vermischen, in ein Verhältnis der Wechselseitigkeit treten und schließlich, wenn es glückt, in eine Dialektik von reflektierender Distanz und anschauender Nähe einmünden. Dieser Balanceakt gelingt nur provisorisch, berührt jedoch den Wahrheitsgehalt der Theorie.

Aber das neue Selbstbewußtsein politisch-intellektueller Arbeit blieb eine kurze Episode. Das Auseinanderreißen von radikalem Denken und alternativer Praxis, das Praxis wie Denken paralysierte, fällt in den Selbstzerstörungsprozeß der Neuen Linken in den siebziger und achtziger Jahren. Auf der Flucht vor dieser - ihrer eigenen - Geschichte drängt es heute viele Postlinke nach einer neu-alten Positivität falscher Versöhnung; Verfassungspatrioten, die sich mit der „Verteidigung der Republik“ begnügen. Das ist mehr als nichts. Doch die Erinnerung an Herbert Marcuse zeigt schmerzlich, was dabei auch verloren gegangen, gleichwohl nicht überholt ist: theoretische Negationsarbeit, wozu auch die enorm praktische Anstrengung gehört, die Substanz geschichtlicher Begriffe und Ideen wider ihre Gegner und vermeintlichen Freunde zu verteidigen: und praktische, auf Form und Inhalt zielende Veränderungsarbeit, wozu gehört, auf den kollektiven Versuch, den eigenen Lebens- und Arbeitszusammenhang, auch die keineswegs freie intellektuelle Arbeit, sich anzueignen und vernünftig zu organisieren, nicht zu verzichten.

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