piwik no script img

„Hey Art, meine Mutter ist weg“

■ Alfred Hitchcocks bester Film „Psycho“ geht auf eine wahre Begebenheit zurück / Die taz hat vor Ort recherchiert

Claus Christian Malzahn

„Ich glaube, der Roman Psycho ging zurück auf eine wahre Begebenheit.

„Ja, auf die Geschichte eines Mannes, der die Leiche seiner Mutter bei sich behalten hatte, irgendwo in Wisconsin.

Fran?ois Truffaut im Gespräc

mit Alfred Hitchcoc

Als am späten Nachmittag des 16. November 1957 die Dunkelheit über Plainfield hereinbrach, war Hilfssheriff Frank Worden in seiner Wohnung nicht mehr zu halten.

Am nächsten Tag wollte er mit seiner verwitweten Mutter Bernice und anderen Verwandten Thanksgiving feiern und bei fettem Putenbraten, süßen Kartoffeln, Bergen von Pudding und viel Bier „eine gute Zeit“ haben. Doch Worden war nervös. In der Küche hatte sich den ganzen Tag nichts getan, die Backröhre war kalt geblieben, und von seiner Mutter fehlte seit Stunden jede Spur.

Worden machte sich auf den Weg, fragte Nachbarn und Bekannte, suchte die Straßen und Gassen ab, schaute im von seiner Mutter betriebenen Krämerladen nach: ohne Erfolg. Schließlich rief er seinen Polizeikollegen Schley an: „Hey Art, meine Mutter ist weg!“

Daß sich die 58jährige Dame in der 700-Seelen-Gemeinde, die im wesentlichen aus dem Highway 73 besteht, verlaufen hatte, schlossen die beiden Sheriffs aus. „Der Wagen von Ed Gein hat am Nachmittag vor dem Laden von Bernice geparkt!“ hörten sie schließlich von einem Anwohner und beschlossen, den 49jährigen Junggesellen zu fragen, ob er vielleicht wüßte, wo Bernice geblieben sein könnte.

Ed Gein lebte am Rande des Dorfes allein in einem zweistöckigen Holzhaus ohne Elektroanschluß. Er war ein netter, 49 Jahre alter Herr, der eigentlich keinen Beruf hatte und sich seine Brötchen mit Babysitten, Rasenmähen oder Autowaschen verdiente. Überhaupt gab es nur nette Menschen in Plainfield, diesem Kaff im Herzen des nordwestamerikanischen Staates Wisconsin, in dem es in den fünfziger Jahren mehr Kühe als Menschen gab. Jedenfalls bis zum Abend des 16.November.

Frank und Al setzten sich in ihre schwarz-weiße Polizeilimousine, hielten auf dem Hof von Gein, stiegen aus und riefen: „Hey Gein, alter Junge, bist du zu Hause?“ Der alte Junge war nicht da, auch sein Auto stand nicht in der Garage. „Laß uns mal drinnen nachgucken!“ meinte Frank.

Frank fand die Vordertür verschlossen und steuerte den Hintereingang an. Er riß die sperrige Tür auf und hielt seine Taschenlampe in die dunkle Küche. Der Lichtstrahl tastete sich vorsichtig durch das unglaubliche Gerümpel von Kisten, Kästen und Kanistern, schreckte quiekende Mäuse auf, warf die Schatten unzähliger Spinnweben an die Wand und leuchtete den dreckigen Holzfußboden aus. Dann sah Frank Worden, Sohn der hundert Kilo schweren Witwe Bernice, plötzlich Rot. Es war das Blut seiner Mutter. Das Herz in der Kaffeekanne

Der Körper von Bernice Worden baumelte, an den Knöcheln mit Seilen festgebunden, nackt, kopflos und mit zerfetzter Brust von der Decke. Worden stand sekundenlang wie angewurzelt auf der Schwelle, rannte dann schreiend, schluchzend, um sich schlagend auf den Hof, warf sich in den Neuschnee und weinte. Art telefonierte, noch völlig fassungslos, polizeiliche Verstärkung aus der nächstgelegenen Gemeinde herbei. Die traf eine halbe Stunde später ein, und die genaue Durchsuchung des Hauses begann.

Gegen acht Uhr abends klingelte bei dem Reporter Quincy Dadisman das Telefon. Am Apparat war Sheriff Schley: „Quincy, wir brauchen dich. Du glaubst nicht, was hier los ist.“

Dadisman lebte rund dreißig Meilen von Plainfield entfernt, schrieb und fotografierte für ein kleines Lokalblatt der Region. Da keiner der üblichen Polizeifotografen erreichbar war, hatte Schley sich an Dadisman gewandt, um Geins Heimstatt abzulichten. Nachdem Art kurz geschildert hatte, worum es ging, sprang Dadisman in sein Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. „Was ich da fotografieren sollte, war unfaßbar!“ erinnert sich der mittlerweile pensionierte Journalist.

Die Beamten hatten inzwischen das Holzhaus durchsucht. Das Herz von Bernice Worden hatten sie in einer Kaffeekanne entdeckt, in einen Lampenschirm und Stühle war Menschenhaut gearbeitet worden, im Küchenschrank fanden die Beamten zehn Schrumpfköpfe, „die so gut erhalten waren, daß einige ihre früheren Nachbarn darin wiedererkannten“ (Dadisman). Im Schlafzimmer schließlich entdeckte man, aufgebahrt und mumifiziert, den toten Körper der Mutter von Ed Gein, die im Jahre 1945 nach langer Krankheit an einem Herzschlag gestorben war. Einigen der ermittelnden Polizisten war von dem Anblick so schlecht geworden, daß sie sich im Vorgarten übergeben mußten.

Als Ed Gein vom Babysitten in sein Totenreich zurückkehrte, ließ er sich, ohne Widerstand zu leisten, festnehmen und packte aus. Er habe Bernice Worden in ihrem Krämerladen am Nachmittag mit einem Kaliber 22 erschossen, sie mit Hilfe seines Trucks zu sich nach Hause gebracht und dort „ausgenommen wie ein Reh“. Auch das geheimnisvolle Verschwinden von Mary Hogan, einer aus der Gegend stammenden Serviererin, klärte sich auf. Gein gab zu, auch sie zwei Jahre zuvor umgebracht zu haben.

Da es in Plainfield kein Gefängnis gab, wurde Gein zunächst in das Dorfrestaurant gesperrt. Am nächsten Tag, einem Sonntag, wimmelte es in dem sonst so verschlafenen Nest nur so vor Reportern. Einige Kinder erzählten den Presseleuten, daß Ed ihnen seine Schrumpfkopfsammlung sogar schon öfters gezeigt hätte. Wenn sie das danach ihren Eltern erzählt hatten, wurden sie aber zur Strafe ohne Abendbrot ins Bett geschickt - schließlich erzählt man solche Gemeinheiten nicht über seine Nachbarn. „Er hat mich nie enttäuscht“

Quincy Dadisman trieb nach dem furchtbaren Wochenende die Exfreundin von Gein auf. „Wir haben jeden Mordfall diskutiert, von dem wir gehört hatten. Eddie hat mir dann immer erklärt, was der Täter falsch gemacht hat und warum er erwischt worden war. Das war wirklich interessant“, berichtete sie ihm. Daß der „süße und höfliche“ Eddie solche Greueltaten begangen hatte, konnte Adeline Watkins nicht verstehen. Gein wurde nie aufdringlich und trank keinen Alkohol. Am liebsten redete er über Bücher, in denen afrikanische Tiger oder indische Prinzessinnen vorkamen. „Ich trank ganz gerne mal ein Bier, aber Eddie mußte man richtig reinprügeln in eine Kneipe. Der wäre am liebsten immer zum Milchtrinken in einen Drugstore gelaufen.“ Auch die Mutter von Adeline war von dem Junggesellen begeistert. „Ich hab‘ ihm immer gesagt: 'Bring mir um zehn Uhr abends meine Tochter zurück.‘ Er hat mich nie enttäuscht.“

Währenddessen unterschrieb der kleine grauhaarige Mann sein Geständnis. Er erklärte, immer auf Todesanzeigen in den Zeitungen geachtet zu haben. Wenn die Beerdigung einer Frau mittleren Alters inseriert wurde, lud Eddie Spaten und Schaufel auf seinen Truck und plünderte das frisch aufgehäufte Grab. Zu Hause wurden die Leichname seziert und in die Räume verteilt. Die Beamten hatten mittlerweile Psychiater hinzugezogen, die nach intensiven Gesprächen mit ihm zum Ergebnis kamen, daß Gein erstens chronisch schizophren war und zweitens einen starken Ödipuskomplex hatte. Der zuständige Richter beschloß deshalb nach kurzer Zeit, Gein nicht den Prozeß zu machen, sondern ihn in ein Irrenhaus einzuliefern.

Während Gein nun in Ruhe und Abgeschiedenheit sein Leben fristete, kam Plainfield nicht mehr zur Ruhe. Das kleine Nest ging durch die nationale Presse; von Florida bis Michigan, von Virginia bis Kalifornien wußte jeder Amerikaner, was sich am 16. November, einen Tag vor Thanksgiving, am Highway 73 in Wisconsin zugetragen hatte. „Wir feiern einmal im Jahr Halloween“, schrieb ein amerikanischer Reporter damals, „aber in Plainfield war immer Halloween!“

Ein findiger Geschäftsmann kaufte den Truck des Mörders und stellte ihn auf Rummelplätzen als Jahrmarktattraktion aus. Für 25 Cent durfte man sich hinter einer Zeltplane gruseln: „Sehen Sie das Auto, das die Toten vom Friedhof transportierte!“ Da Gein, ständig pleite, einen Haufen Schulden hinterließ, sollte sein Holzhaus am 31.März 1958 versteigert werden. Ein anderer Unternehmer kam auf die Idee, ein Gruselkabinett daraus zu machen und damit Touristen aus aller Welt nach Plainfield zu locken. Einigen Bürgern des Dörfchens ging das entschieden zu weit. 24 Stunden vor der Auktion, zu der Hunderte von Interessenten gekommen waren, stand Geins Geburtshaus plötzlich in Flammen. Und bei den Bemühungen, das Feuer zu löschen, konnten Beobachter damals keine übertriebene Eile erkennen. Es brannte völlig ab, und die Käufer verließen das Nest so schnell, wie sie gekommen waren. „Sie waren immer fair zu mir“

Quincy Dadisman blieb nicht mehr lange bei dem Wald- und Wiesenblatt, für das er gearbeitet hatte. Als erster Reporter, der vor Ort gewesen war, standen ihm die Angebote offen - Dadisman wechselte in die Millionenstadt Milwaukee und bekam eine Festanstellung bei der größten Zeitung dort, dem 'Sentinel‘. Dort schrieb er, jeweils im Abstand von fünf Jahren, die Jubiläumsgeschichte vom 16. November auf. „Ich weiß nicht mehr, wie oft ich das gemacht habe!“ erklärt er. Aber eines hat er nie geschrieben: daß er der einzige Journalist war, der mit Gein ein Interview gemacht hat. Elf Jahre nach den grausamen Entdeckungen wurde Gein nämlich der Prozeß gemacht, um erneut seine Schuldfähigkeit zu prüfen. Er wurde abermals für nicht zurechnungsfähig erklärt und zurück in das Hospital geschickt, in dem er von einer Reise um die Welt träumte und ansonsten einsam auf seinem Zimmer saß. Bevor die Polizisten ihn abführten, wandte er sich an seinen Arzt: „Ich will mit Dadisman reden!“

„Ich war noch nie so aufgeregt, wie in dem Moment, wo ich das erfuhr!“ erinnert sich Quincy. Gein kam auf ihn zu, sah den Reporter mit seinen wäßrigblauen Augen an und sagte: „Ich wollte mich bei Ihnen nur bedanken. Sie waren immer fair zu mir.“ Dann drehte er sich um und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Warum er das sagte, ist Quincy, der jetzt mit seiner Frau in einem Vorort von Milwaukee lebt, bis heute nicht ganz klar. „Ich hab‘ ihn nie als Monster verkauft, sondern nur die Fakten geschildert. Vielleicht deshalb.“

Seine vorläufig letzte Geschichte über Ed Gein schrieb Dadisman am 19. Juli 1984. „Ich war gerade im Rathaus, als mich der Chef vom Dienst anrief und sagte: 'Gein ist tot. Krebs. Du hast eine halbe Seite!'“ Quincy schüttelte sich die Story aus dem Ärmel. Für die Konkurrenzblätter war der Nachruf ein Problem: Wer vor Ort recherchierte, weil er die Story nur vom Hörensagen kannte, lebte gefährlich. Die Einwohner von Plainfield haben, dreißig Jahre nach dem blutigen Thanksgiving, die Nase voll von der Journaille. Einige Reporter wurden sogar mit der Schrotflinte aus dem Dorf gejagt.

Von der Geschichte des schizophrenen Mörders hörte Ende der Fünfziger auch der Schriftsteller Robert Bloch. Der in Milwaukee lebende Autor schrieb einen Bestseller namens: Psycho. Alfred Hitchcock bekam das Buch in die Finger und machte seinen besten Film daraus. „Hitchcock hat die psychologische Problematik des Falles gut dargestellt!“ meint Quincy anerkennend. Es gebe nur einen Unterschied: „Eddie war an jungen und schönen Frauen nicht interessiert. Seine Opfer waren dick und alt - wie seine Mutter.“

Art Schley und Frank Worden sind nicht mehr am Leben. Und dort, wo einst das verwunschene Haus stand, wachsen nun Birken. Ein Einwohner hat dort Anfang der Sechziger eine Baumschule aufgemacht; nichts sollte mehr an die furchtbaren Ereignisse erinnern. Plainfield möchte vergessen, titelte vor kurzem noch die größte Zeitung von Wisconsin. Das ist nicht so einfach. Denn manchmal, wenn der Gärtner Setzlinge in seine Baumschule pflanzt und die Erde umgräbt, kommen Knochen zum Vorschein. Dann ist er plötzlich wieder da: der berühmteste Bürger Plainfields, der seine Mutter nicht beerdigen wollte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen