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Das polnische Dilemma

Mit einer Einmütigkeit, die erstmals in der Nachkriegsgeschichte einen nationalen Konsens über die polnische Staatsraison erkennen läßt, haben General Jaruzelski und Premier Mazowiecki die Haltung Polens zum Prozeß der deutschen Einigung festgelegt. Beide unterstreichen das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, heben hervor, daß der Einigungsprozess in Abstimmung mit den Bündnispartnern und Nachbarn der deutschen Staaten ablaufen müßte, und beide verlangen eine vertragliche Garantie der polnischen Westgrenze. Diese Garantie müßte, darin ist sich die polnische Diplomatie mit Margaret Thatcher einig, vor der Konstituierung eines vereinten Deutschlands gegeben werden. Polen strebt nicht etwa eine Neutralisierung Deutschlands an, sondern internationale Kontrollmechanismen, die Deutschland „einbinden“ und den Abzug ausländischer Truppen von fremden Territorien ermöglichen sollen. Der der Gewerkschaft Solidarnosc nahestehende außenpolitische Experte Artur Hajnicz umriß die polnische „Staatsraison“ so: „Polen muß sich völlig vom Status eines Jalta-Staates befreien und den Status eines normalen europäischen Staates erlangen. Es geht darum, sich gleichzeitig - im Zusammenwirken mit Ost und West - von dem gesamten Syndrom der deutschen Gefahr und des sowjetischen Protektorats zu befreien.“ Tatsächlich wäre nichts fataler, als wenn Polen wegen der ungeklärten Grenzfrage und eines militärischen Drohpotentials der Deutschen die „Flucht ins sowjetische Protektorat“ antreten müßte und sich damit erneut in jener Falle gefangen sähe, die Stalin in Jalta und Potsdam für den polnischen Staat aufgestellt hat.

Jaruzelskis Bemerkung gegenüber der Zeitschrift 'Sztandar Mlodych‘, der Abzug der sowjetischen Truppen aus Polen sei begrüßenswert, müßte aber in einer Situation vor sich gehen, die „für Polen am vorteilhaftesten“ sei, beschreibt das Dilemma der polnischen Regierung. Sie sieht sich Forderungen - unter anderem von Walesa und Teilen der Solidarnosc gegenüber, die Gunst der Stunde zu nutzen, die sowjetischen Truppen herauszukomplimentieren und den Warschauer Vertrag zu verlassen, kann diesen Forderungen aber auf Grund der westdeutschen Position nicht nachkommen. Um die Verhandlungspositionen der gesamten „Zwischenzone“ zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu stärken, war von polnischer Seite die Idee einer tschechoslowakisch -polnischen Föderation ins Spiel gebracht worden. Aber der Westdrift der ostmitteleuropäischen Staaten hat dem Projekt rasch das Lebenslicht ausgeblasen.

Der Militärberater Gorbatschows, Sergej Achromejew, liegt deshalb mit seiner Prognose wahrscheinlich nicht schief, daß der Warschauer Pakt weiter bestehen werde, weil er durch gemeinsame Interessen verbunden sei. Achromejew erklärte sybillinisch, er rechne damit, daß ein oder zwei Länder wahrscheinlich den Pakt verlassen würden. Ginge es nach den Wünschen der polnischen Gesellschaft, so stünde einer der Deserteure fest. Aber dank Kohl und Waigel sind die Verhältnisse eben nicht so...

Christian Semler

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