Die Überwindung des inneren Schlittenhundes

■ Über der Antarktis schwebt nicht nur das Ozonloch, sondern auch die Erleuchtungssehnsucht des Berggurus Reinhold Messner

Die Überwindung des

inneren Schlittenhundes

Über der Antarktis schwebt nicht nur das Ozonloch, sondern auch die Erleuchtungssehnsucht des Berggurus Reinholf Messner.

Von

RÜDIGER KIND

wei Männer kämpfen sich auf Skiern durch eine endlose Eiswüste. Eingespannt in ein Zuggeschirr ziehen sie ihre Schlitten mit Proviant und Ausrüstung durch die Antarktis zum Südpol. Keine Hunde- oder gar Motorkraft hilft ihnen dabei. Diese mörderische Strecke bewältigen sie nur aus eigener Kraft - by fair means -, auch wenn ein gnadenloser Gegenwind jeden Schritt zum Martyrium macht. Die Namen der beiden Leidensmänner: Arved Fuchs und Reinhold Messner.

Wie kommt der Bezwinger aller 14 Achttausender auf die Idee, sich der Herausforderung des Flachlandes zu stellen? Vor vielen Jahren sagte er einmal: „Ich wollte einmal hoch hinaufsteigen, um tief in mich hineinsehen zu können.“ Seither ist er öfter und höher hinaufgestiegen als jeder andere Mensch der Erde. Wieder und wieder. Doch was er von hoch da droben tief unten in sich sah, kann so erhebend nicht gewesen sein. Immer war es nur das kleine Südtiroler Reinhold-Ego, dessen Welt-Läufigkeit sich in der Besteigung jeder größeren Erhebung nicht endgültig bezwingen ließ. Und das war es, was er in der dünnen Luft der Todeszone erfahren wollte - die Auflösung des Seins, sagen zu können: „Ich bin's und ich bin's doch nicht.“

Er wurde nicht müde, als Kurier des Wahren seine Botschaft von der Selbsterfahrung im „An-Grenzen-Gehen“ multimedial zu verkünden. Doch seit die Schar der Jünger in allerlei Seilschaften und Trekkinggruppen vor den Achttausendern Schlange steht, um seine Heilsbotschaft von der Selbstfindung am Berg zu erhangeln, muß der Messias der Ich -Bezwinger ins flachere Gelände ausweichen. „Vielleicht muß ich meinen Weg im Flachen machen, um in mich selbst einen Blick werfen zu können?“ lautet sein neuestes Credo.

Und so kam er auf die Idee, das letzte noch unberührte, von Menschen kaum erschlossene Territorium, die Antarktis, zu Fuß zu durchqueren. Der Gang über die südliche Polkappe als eine der letzten Herausforderungen, die unser geschundener Planet Messner noch zu bieten hat.

s sollte eine Expedition ins Innerste des Selbst werden, eine Reise zum Endpunkt des Ich, zu dem Zustand, „den die Buddhisten Nirwana nennen - wunschloses, leeres Dasein“. Zusammen mit seinem Kompagnon machte er sich auf den „letzten Trip auf Erden“. Und alles war anders als gedacht. „Ich dachte, vielleicht stehen ja Berge da draußen, wie viele tausendmal zuvor, wenn ich in der Früh‘ aus dem Zelt geschaut habe. Doch auf der antarktischen Eiskappe gibt es nichts, wohinter du dich verkriechen kannst. Jetzt erst habe ich angefangen zu begreifen, was das bedeutet: kein Basislager, keine Zuflucht, immer ausgesetzt und schutzlos wie ein nacktes Findelkind.“

Vor sich den gläsernen Horizont, hinter sich die „Heimat des Blizzard“, unter sich den „Tanzboden des Teufels“, über sich „eine Art eisigen germanischen Götterhimmels“, Ozonloch inklusive, um sich herum die Arena der Einsamkeit - hier kann ein Mann zu sich selbst finden, sich spüren, den Kern, das Wesen seines Ich in einen höheren Sinn vergehen lassen. Es ist kaum zu beschreiben, diese Erfahrung im Grenzbereich, wenn aller Menschentand abgeschüttelt, alle Technik-Krücken der Zivilisation abgestreift sind - nur Reinhold kann das, darin immer noch ein ganzer Messner. Er notiert in sein Tagebuch: „Ich bestehe nur noch aus Einsamkeit. Ich blicke sie an... Ganz deutlich spüre ich, daß in mir ein Loch ist. Der Schreck, plötzlich allein und leer zu sein, treibt mich in eine grenzenlose Gefühlsverwirrung. In Anfällen nackter Verzweiflung bricht die Einsamkeit aus mir aus, und ich will sterben... Der Tod wird mir zur letzten Stütze...“

och ganz so leicht wird es ihm nicht gemacht, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen: Immer wieder holt sie ihn ein, ja überholt ihn zuweilen, wird so zur Zukunft, die er, in einer Art übermenschlicher Bezwingung seines inneren Schlittenhundes, so lange verfolgt, bis er sie eingeholt und endgültig zur Schnecke gemacht hat. Doch schon am nächsten Tag erhebt sie wieder ihr gräßliches Medusenhaupt.

Die Schinderei geht weiter. Die beiden stemmen sich gegen die Widerstände der äußeren wie der inneren Natur. „Niemandem will ich mich in Zukunft unterwerfen, nicht einmal mir selbst. Deshalb gehe ich meinen eigenen Weg; nur wenn ich eins mit meinem Weg bin, fühle ich mich stark.“ Noch strahlt Zuversicht aus Messners Worten, aber als der eisige Gegenwind die beiden kaum mehr vorwärts kommen läßt und ihre Fortbewegung mehr und mehr dem „elenden Dahinkriechen einer Ameise“ gleicht, brennen die ersten Sicherungen durch. „Sechs Stunden marschiert. Wir tappen im weißen Nichts wie im Dunkeln... In mir das Schweigen der Erde; vor mir der Abstieg in mein eigenes Leben.“

Dann, endlich, ist es soweit - sie nähern sich dem Südpol. „Was als letzte treibende Kraft noch bleibt, ist einerseits der Pol, andererseits der elementare Wille, ihn zu erreichen und damit die eigene Grenze kennenzulernen. Nur wer sich dem Pol in Demut nähert, kann die Harmonie der Welt erfahren.“ Das ist Messners humane Dimension - den Pol an sich ranzulassen, sich auf den Pol einzulassen, solange, bis er mit ihm verschmilzt und zum Nabel der Welt wird...

uf der Suche nach seiner inneren Grenze entgleiten Messner mehr und mehr die Konturen seines eigenen Selbst. Der Pol zieht ihn an und stößt ihn ab, Yin und Yang, männliches und weibliches Prinzip, Schwarz und Weiß, Messner und Nabel, Dick und Doof, verwirbeln in seinem gemarterten Hirn zu einer Ursuppe messnerianischer Erlösungssehnsucht. Ein Gefühl peitscht ihn zum Pol, ein anderes treibt ihn von dort wieder weg in die antarktische Tagnacht. Und dann, unmittelbar am Südpol, geschieht es - eine kristallene Erkenntnis bemächtigt sich seines sturmdurchtobten Hirns. Die Einheit allen Seins offenbart sich ihm: Der Pol ist der Gipfel und jeder Gipfel ein Pol. Und er ist der Zipfel seiner Mütze, die die Polkappe ist. Reinhold erkennt, daß er die drei Zinnen in sich trägt. An der Eiger-Nordwand seines Seins zerschellen endgültig die eitlen Träume von Allmacht und Autonomie. Er ist bereit, er ist unterwegs, weiter und weiter geht der Weg, der ihm das Ziel ist.

ückenwind setzt ein, endlich können die Gleitschirme aufgespannt werden, die beiden Pol-Geher werden in beschwingtem Rhythmus über die endlosen Eisflächen getragen. Schneller und schneller wird die Fahrt. Reinhold klammert sich eisern an die Steuerstricke seines Schirms, er ruht in sich, ist in sich, ihm dämmert die tiefe Erkenntnis, alle Geheimnisse dieser an Rätseln so reichen Welt in sich zu tragen - die Fragen wie die Antworten, in sich die Kraft des Lebens, in sich den Tod, Anfang und Ende. Die Welt schließt ihn ein und spuckt ihn aus. Die Welt hat wieder einen Sinn für ihn, und er einen Unsinn für sie.

Schneller und schneller segelt Reinhold das Matterhorn. Plötzlich ein „Sastrugi“, eine vom Wind aufgetürmte Schanze aus Eis. Seine Schanze. Seine letzte. Reinhold rast auf sie zu, hebt ab. Und vom Gipfel seines Selbst entschwebt Messner im Gleitflug gen Himmel. Höher und höher steigt er in den gläsernen Azur, kleiner und kleiner wird Reinhold, zuletzt ein winziger Punkt - bis ihn das Ozonloch schluckt. Oder hat er es geschluckt? Für uns...?