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„Dann hätten wir's als nächste abgekriegt!“

■ Rowdytum und Lethargie in der U-Bahn Ein alltägliches Erlebnis eines taz-Lesers

Ich habe die Hand an der Notbremse. Warum ziehe ich sie nicht? Wenige Meter von mir entfernt wird ein Mann zusammengeschlagen. Eine Jugendgang hat ihn sich vorgenommen. In der U-Bahn zwischen der Amrumer Straße und Putlitzstraße ist das letzte Abteil locker gefüllt mit Menschen aller Couleur: Jung, Alt, Mann, Frau, Aus- und Inländer. Alle sehen weg.

Schon im Bahnhof Amrumer Straße, in dem ich auf den nächsten Zug in Richtung Rathaus Steglitz warte, hat sich die unscheinbare Gruppe den schmächtigen Jungen vorgenommen. Die vier Jugendlichen stoßen ihn auf dem Bahnsteig umher, er hebt schützend die Hände - wehrt sich aber nicht. Aus dem Lautsprecher, in sicherer Entfernung, ertönt die Stimme des BVG-Beamten: „Hört das jetzt mal langsam auf?“ Für wenige Sekunden ist Stille. Dann geht es weiter. Die Gruppe schubst den Jungen langsam in unsere Richtung, auf den letzten Wagen zu.

Die U-Bahn kommt nach endlosem Warten. Wir steigen alle ein. Im hintersten Abteil an der letzten Tür steht der Junge. Die vier springen springen kurz vor der Abfahrt des Zuges hinein. Sie schimpfen „Kanake“ und versammeln sich um den stillen Jungen. Nur knapp daneben stehen andere Fahrgäste. Wer kann es ihnen verübeln, daß sie nicht einschreiten, als drei auf ihr passives Opfer einschlagen und -treten. Die Fahrt zur Putlitzstraße dauert viel zu lange. Die anderen Fahrgäste im Zug sehen gekonnt daneben. Es ist bestimmt nicht das erste Mal, daß neben ihnen eine Person geschlagen wird. Was soll man auch anderes tun als abwarten? Als der Zug zu bremsen beginnt, läßt die Gang den nun am Boden Liegenden in Ruhe, steigt aus. Einer der Gruppe zerschlägt mit der Faust beim Verlassen des Bahnsteigs noch ein Ausgangsschild. Glas klirrt. Alle schweigen. Die U-Bahn fährt nicht weiter. Nach einer Weile kommt ein BVG-Beamter mit geschultertem Funkgerät in das letzte Abteil und fragt, ob es hier eine Schlägerei gegeben habe und ob sie noch da wären. Der Junge ganz hinten hat sich schon wieder hochgerappelt und zeigt noch zum Ausgang. Als der Beamte fragt, wieso niemand etwas gesagt hätte, werden einige Stimmen laut: „Dann hätten wir's doch als nächste abgekriegt!“ Diese kleine Szene ist nicht Teil eines Films über New York, sondern Berliner Realität. Sie geschah am Mittwoch abend zwischen 19.45 und 20 Uhr in der U9 zwischen Amrumer Straße und Putlitzstraße. Natürlich kann die Polizei nicht überall sein - das soll sie auch gar nicht - doch wieso ist es nicht möglich, ein paar Beamte zur Putlitzstraße zu rufen, wenn auf dem vorherigen Bahnhof schon offensichtlich ist, was da im letzten Wagen passieren wird?

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