: Die letzten...
■ ...Aufrechten: Neue Musik aus Albanien
So ganz sicher war es nie, daß Pjotr Iljitsch Tschaikowsky am 25.10. (respektive 6.11.) 1893 in St. Petersburg an den Folgen der Cholera verschied. Und jetzt ist klar: Tschaikowsky lebt! Und wie. In Essen wurde das bis gestern ohrenfällig unter Beweis gestellt. Die Gesellschaft für Neue Musik Ruhr, die Folkwanghochschule und der Kunstring Essen luden zu einer Veranstaltungsreihe mit albanischen und rührigen regionalen Komponisten der Gegenwart (Hufschmidt, Stäbler).
Zur Eröffnung glänzte der Sekretär des Komponistenverbandes in Tirana mit einer Einführung in die albanische Musik (seit der Steinzeit) und die Entwicklung der heutigen albanischen Musik (mit dem Charme der fünfziger Jahre). Die Krönung: einige für das gegenwärtige Komponieren richtungsweisende Dokumente der Tonkunst aus dem Land der tapferen Skipetaren, die - wie es immer wieder hieß - ganz auf die eigene Kraft vertrauen und sich auf die Wurzeln im eigenen Volkstum stützen, und zwar die gesunden. Entweder müssen diese Wurzeln aber unter der hermetisch geschlossenen Landesgrenze hindurch (Jugoslawien, Ungarn und Rumänien untergrabend) bis in den russischen Mutterboden vorgedrungen (und in die heroische Zeit des sozialistischen Realismus zurückgewachsen) sein, oder aber es ist davon auszugehen, daß sich der Schöpfer des unsterblichen b-moll -Klavierkonzerts, der Symphonie pathetique, des Schwanensee und des Nußknackers diskret von der Neva in das Land zwischen Schwarzer Drin und Vijose zurückgezogen und dort eine fruchtbare Schülerschaft um sich geschart hat. Ja, oft scheint es, als habe der gute Peter noch eigenhändig die Feder geführt - er, dem der Kritiker Hanslick vor hundert Jahren, als Tschaikowsky auf dem internationalen Parkett erschien, bescheinigte: kein gewöhnliches Talent, wohl aber ein forciertes, geniesüchtiges, wahl- und geschmacklos produzierendes.
Mit Knoblauch und Joghurt mag er sich in einer Datscha bei Tirana frisch und munter erhalten haben. Vielleicht sitzt er allabendlich mit dem Ästheten Shdanow und dem Pensionär Hodscha im Teehaus beim Tarock. Jedenfalls blieb er unmittelbar lebendig, wenn das, was da in Essen erklang, die aktuelle Neue Musik in Albanien darstellt: Mit „Formalismus“ oder anderen Abweichungen von der Generallinie, so versicherte der Komponistenverbandssekretär, gibt es bei und mit den albanischen Komponisten keinerlei Probleme: Ein Abweichen von dieser Linie würde die Individualität gefährden. Ausnahmslos alle schöpfen aus dem Volksbett, auch die acht albanischen Freischaffenden (die ihre Bezüge vom Staat erhalten).
Was veranlaßt ihre deutschen Kollegen in Essen, den Offenbarungen aus Tirana andächtig zu lauschen? Es sei wichtig, daß die Kultur eines kleinen Landes wie Albanien hier überhaupt wahrgenommen wird: Es ist sehr wichtig, daß man mit diesen Kollegen - wenn sie es wünschen - in den Dialog kommt. Bei diesem Dialog mit den wurzelbehandelten Kollegen muß wohl einiges ausgeklammert bleiben; rasch könnte es für diese, wenn sie sich westlichen Neuerungen gegenüber allzu aufgeschlossen zeigen, mehr als ungemütlich im Prokrustes-Volksbett werden. Und dann, was ja für das letzte Schlupfloch eines intellektuellen Folkloretraums herzlich schade wäre, dann wäre Tschaikowsky endgültig tot. Vielleicht sollte die VR Albanien als Musikmuseum erhalten werden.
Frieder Reininghaus
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