: Eine Amerikanerin in Berlin
■ Die New Yorkerin Marcia Pally betrachtet die Berlinale
Alles eine Sache von Quadratmetern. Sicher, man kann zur Zeit viel von Ost-Berlin mitkriegen, ehe die neu erwachte Sensibilität im anderen Teil der Stadt in dem Ansturm auf Bananen und BMWs untergeht, aber das Entscheidende ist für mich - hier wie in vielen anderen Fällen - ganz einfach die Größe. Das ist eben einer der Vorteile, wenn man einen Krieg verloren hat - man hat viel Platz.
Eine Stadt, die wie Berlin dem Erdboden gleichgemacht wurde, hat dadurch zum Beispiel die Möglichkeit, ihre Straßenzüge neu anzulegen, um sie den Anforderungen des modernen Straßenverkehrs anzupassen. Damit erhalten auch die Begriffe Rush-Hour und Parkplätze eine völlig neue Dimension. Zum Vergleich denke man an die miserable Situation von Saint Paul de Vence, einem kleinen französischen Dorf, das etwa genauso weit vom Filmfestival in Cannes entfernt ist wie Ost-Berlin vom Zoo-Palast. Hier hat es seit dem 14. Jahrhundert nie eine Kahlschlagsanierung gegeben, und man kann sich vorstellen, wie es dort mit Parkmöglichkeiten aussieht! Zur Zeit durchwühlen viele Westler, die völlig zu Recht davon ausgehen, daß Wohnungen in Ost-Berlin für 'nen Appel und'n Ei zu haben sein werden, die Halbstadt nach günstigen Immobilien wie die sprichwörtlichen Schweine auf der Trüffelsuche. Mein Geheimtip würde jedoch eher lauten, meterweise die Straßenränder im Ostteil der Stadt mit Beschlag zu belegen dann braucht man nur noch zu warten, bis die Herren mit den großen Firmenwagen kommen. Außerdem würde es sich bestimmt lohnen, in Lackverdünner zu investieren. Angesichts all des Stucks und der Wandtäfelungen in den wunderschönen alten Vorkriegs-Wohnungen steht der Stadt eine riesige Abbeiz -Orgie ins Haus.
Die Ost-Berliner werden überhaupt gut beraten sein, in den nächsten paar Jahren das klassische Rezept zu beherzigen, wie man schnell reich werden kann: Ja nichts wegschmeißen, weil alles kurze Zeit später im Zuge der Nostalgiewelle auf dem Antiquitätenmarkt wieder auftauchen und ein Vermögen wert sein wird. Die vielen Türen mit geätztem Glas und schmiedeeisernen Straßenlaternen, wie man sie vor allem an den kleinen Nebenstraßen abseits von Karl-Marx-Allee und Unter den Linden finden kann, sind natürlich ebenfalls ein wertvoller Schatz (man könnte sie vielleicht als Zugabe kriegen, wenn man den Straßenrand aufkauft).
Die alten Gasöfen mögen vielleicht etwas weniger augenfällige Objekte sein, aber man sollte sie auf jeden Fall aufbewahren, wenn überall die Zentral- und Fernheizungen eingebaut werden. Die Dinger mögen häßlich, umständlich und zeitraubend sein, aber das hat man auch einmal den alten Standuhren nachgesagt. Die meisten der klassischen braun-gelben Tapeten und die Kokosläufer in den alten Berliner Mietshäusern sind natürlich zu verschlissen, als daß es sich lohnen würde, sie aufzubewahren, aber man sollte sich auf jeden Fall Muster davon aufheben. Später werden die Kinder nach diesen Vorlagen eine neue Ausstattung anfertigen und ihren Eltern dafür dankbar sein.
Ich weiß, daß die im Osten durchaus in der Lage sind, so vorausschauend zu planen, auch wenn man sie jetzt als vermeintlich sentimental und altmodisch diskriminiert immerhin haben sie bis heute in sicherer Entfernung von den Klauen des Kapitalismus gelebt. Ich bin um so mehr davon überzeugt, seit ich gesehen habe, wie das Geschäft mit der Mauer blüht: Die Art und Weise, wie Ost-Berlin mit den Betonplatten Handel treibt, würde selbst einem Kameltreiber die Schamröte ins Gesicht treiben. Und natürlich hat man mir von den Ständen entlang der Mauer erzählt, an denen man sich Hammer und Meißel ausleihen konnte, und auch von den nächtlichen Graffiti-Sprühaktionen mit dem Ziel, den Wert des asbestverseuchten Betons in die Höhe zu treiben. In den kommenden Jahren werden die Kunsthändler sicherlich Expertisen über die Echtheit von Mauersegmenten von vor 1990 anfertigen und sich mit diesen zementenen Inkunabeln zweifellos eine goldene Nase verdienen.
Diejenigen Ostberliner jedoch, die wirklich Weitblick besitzen, werden ihr Geld jetzt in jene quadratischen Wohnungen aus den sechziger und siebziger Jahren mit ihren niedrigen Decken investieren. Wenn nach einem oder spätestens zwei Jahrzehnten die alten Parkettfußböden aus der Mode gekommen sind, wird es garantiert wieder in sein, in diesen romantischen Schuhkartons zu hausen. Übersetzung: Hans Harbort
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