: „Die DDR ist runtergekommen, wir nicht!“
Auftaktveranstaltung des Wahlbündnisses 90 in Schwerin / Schwerpunkt liegt auf Basisarbeit / Grußbotschaften aus dem Osten enttäuschend ■ Aus Schwerin Christian Semler
„Wir müssen an den Tropf“, sagt Jochen Gauck, Spitzenkandidat des Bündnisses 90 im Wahlbezirk Rostock, „aber man kann auch würdig auf der Bahre liegen“. Den 1.500 Leuten, meist Aktivisten des Neuen Forum, die sich in der riesigen Sport- und Kongreßhalle von Schwerin verlieren, hat er aus dem Herzen gesprochen. Sie haben im Oktober die Revolution gemacht, die Stasi ausgeräuchert und in vielen Kommunen das Heft in die Hand genommmen.
Jetzt herrscht Bitterkeit. Wo sind die Massen geblieben? „Der Bauch frißt den Kopf“ - Thomas Müntzer wird an diesem Abend öfter zitiert und nicht nur von den zahlreichen anwesenden Pastoren. „Die Jagd gehört dem Dorf“, hat der Theologe der Revolution geschrieben. Die Bürgerbewegung hier im Norden weiß, daß die Teilnahme an den DDR-Wahlen unumgänglich ist (man wäre freilich lieber allein angetreten). Aber wirklich stark fühlt man sich „vor Ort“, bei den kommunalen und den „dörflichen“ Themen.
Was wird mit dem Grund und Boden? Der Kandidat aus Wismar, Fritz Kalf, Ingenieur und Bauer, der aussieht wie ein alter Genosse in einem Defa-Reformfilm (und tatsächlich auch mal einer war), will eine Volksabstimmung in Mecklenburg, die die Enteignung des Großgrundbesitzes bestätigt. Anders soll mit denen verfahren werden, die bei der Zwangskollektivierung vertrieben wurden. Wenn sie wollen, können sie wieder Einzelbauern werden, auch wenn sie heute in der Bundesrepublik leben.
Kann man die LPGs reformieren? Für Hans-Jürgen Zimmermann aus Ludwigslust gibt es eigentlich keine Bauern mehr. Die dörflichen Strukturen sind zerstört worden durch die Spezialisierung der 70er Jahre. Zimmermann möchte die LPGs kapitalisieren und die Bauern zu Anteilseignern machen. Neue Genossenschaftsverbände sollen den Handel organisieren und eine neue Lebensmittelindustrie hochziehen.
Woher sollen die Kredite kommen? BRD-Investitionen, Regionalfonds der EG? Leute wie Zimmermann haben keine Angst. „Wir werden wieder rechnen lernen“, sagt er, „mit geringeren Kosten produzieren und alles selbst auf auf den Weg bringen.“
Jutta Schuster ist Lehrerin und Spitzenkandidatin in Schwerin. Sie hat hier die Stasi aufgelöst - ohne Haß und Triumphalismus. Wenn all die Leute von der Stasi ihren Einsatz einer konstruktiven Sache zugewandt hätten, stünden wir heute anders da. Jutta ist streng, nachdenklich und äußerst beliebt. Ob noch basisdemokratische Institutionen festgeklopft werden können? Jutta Scherer ist skeptisch. Auf alle Fälle müsse das Land Mecklenburg wiedergegründet werden - Vorpommern, das Stiefkind, nicht zu vergessen. Das wünschen sich auch alle Teilnehmer der Veranstaltung. Und Schwerin, bitte, liebe Rostocker, soll die Hauptstadt sein.
Auf der Tribüne der Großveranstaltung sitzen in drei Reihen - ein bißchen wie auf den Parteitagen verflossener Tage die Kandidaten des Bündnisses aus den künftigen fünf Ländern. Der Spitzenkandidat Jens Reich, Naturwissenschaftler und ein glänzender politischer Essayist dazu, läßt angenehmerweise jede populistische Anbiederung an die Nordlichter vermissen. Wir möchten nicht, sagt er, den lahmen Sozialismus nur durch eine lahme, formale Demokratie ersetzen. Noch können wir ein Wörtchen mitreden, wenn es um die Subventionen, die Währungsunion, die zukünftige Gestalt des Rechts auf Arbeit und um den Grundbesitz geht. Reich spottet über die Jeremiade vom Ausverkauf und fordert die Leute einfach dazu auf, die Augen aufzumachen und ihre Interessen zu vertreten. Nicht passiver Widerstand, sondern „Sich-Einbringen“. Keine Angst vor den Wahlen - Qualität entscheidet, und im übrigen bleiben die Probleme.
Reich hat Frau Hamm-Brücher mitgebracht, die als Mutmacherin auftritt und aus ihrer Sympathie für das Bündnis ebensowenig Hehl macht wie aus ihrer Unzufriedenheit mit der parlamentarischen Praxis in der BRD. Sie zieht eine Grußbotschaft von Rita Süßmuth und ein paar wohlgesetzte Worte Weizsäckers aus der Tasche und tröstet die Versammlung mit der allzu bekannten Sentenz Max Webers vom geduldigen Bohren dicker Bretter als Beruf des Politikers.
Die Grußbotschaften der Ostmitteleuropäer waren zu lang, inhaltlich dünn und von zu wenig kompetenten Vertretern vorgetragen. Bedenkt man die jahrelangen intensiven Beziehungen von Mitgliedern des Bündnisses zur demokratischen Opposition dieser Länder und die Verdienste, die sie sich für die Verständigung mit den Völkern der ostmitteleuropäischen Region erworben haben, hätte die Solidarität ruhig etwas deutlicher ausfallen können.
Marianne Birthler von Frieden und Menschenrechte faßte die „Trotz-Alledem-Stimmung“ gegen Ende der Versammlung schön zusammen. „Das Land“, rief sie den Delegierten entgegen, „ist ganz schön heruntergekommen, aber wir nicht.“
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