: Mit Rotation gegen Leukämie
■ Die britische Atomfabrik Sellafield tut sich schwer mit den brisanten Ergebnissen des Krebsforschers Martin Gardner
In der zweitgrößten Atomanlage der Welt, im britischen Sellafield, hat die Studie des Southamptoner Wissenschaftlers Martin Gardner über den Zusammenhang von Radioaktivität, Genschäden und Leukämie die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die Bremer Strahlenforscherin Schmitz -Feuerhake hält die Ergebnisse dieser Studie für „wirklich sensationell“. Der Betreiberfirma BNFL fällt nichts Gescheiteres ein, als ein Rotationsprinzip einzuführen, damit kein Arbeiter länger als vier Stunden pro Schicht der erhöhten Strahlung ausgesetzt ist.
Vor dem Souvenirstand im Besucherzentrum von Sellafield drängelt sich eine Schulklasse. Die etwa zwölfjährigen Mädchen kaufen Süßigkeiten und Andenken: Schlüsselanhänger, Postkarten, Miniatur-Atomreaktoren, Anstecknadeln. Alles trägt den Aufdruck: „Ich war in Sellafield.“ Die britische Fremdenverkehrszentrale bezeichnete die Atomanlage 1987 als „Englands Touristenattraktion mit der größten Zuwachsrate“. Ein Jahr später eröffnete British Nuclear Fuels (BNFL), die staatliche Betreiberfirma der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage, das 15 Millionen Mark teure Besucherzentrum. Die „Entdeckungsreise in die Welt der Atomkraft“ (BNFL-Broschüre) ist kostenlos. Auf Knopfdruck können Reaktormodelle, bunte Graphiken und ein Dutzend Kurzfilme über die Pirouetten der Elektronen in Betrieb gesetzt werden. Die Botschaft ist immer dieselbe: Atomkraft ist sauber, sicher und schafft Arbeitsplätze. Die Tour endet im Herzen eines Reaktor-Modells. Ein Mann, der auf einem Fernsehmonitor erscheint, erklärt die Funktionsweise der Atomspaltung. Auf einem zweiten Monitor ist eine Frau zu sehen. Sie versteht nichts von Technik, aber ein Gefühl sagt ihr: „Hier herrscht eine so kontrollierte Atmosphäre.“
Während des Rundgangs werden Flugblätter von BNFL -Angestellten verteilt: die Antwort der Atomindustrie auf den „Gardner-Bericht“. Professor Martin Gardner von der Universität Southampton hat in einem vor zwei Wochen veröffentlichten Bericht zum ersten Mal die Verbindung zwischen Radioaktivität, Genschäden und Leukämie bei Kindern nachgewiesen: Wenn Väter in den sechs Monaten vor der Zeugung einer erhöhten Strahlung ausgesetzt waren, steigt das Leukämie-Risiko für ihre Kinder auf das Sechs- bis Achtfache. Jake Kelly tut den Bericht als hypothetisch ab. Kelly, früher BBC-Journalist, arbeitet seit zwölf Jahren als Werbemanager bei BNFL. Kelly sagt, der Gardner-Bericht habe beträchtliche Unruhe unter der Belegschaft hervorgerufen, weil die Artikel in der Presse „unverantwortlich und zum Teil lächerlich“ gewesen seien: „Der Bericht beweist gar nichts. Gardner hat selbst gesagt, daß er lediglich Statistiken ausgewertet habe. Er zeigt die Richtung auf, in die weitere Untersuchungen gehen müssen.“ Die in der Umgebung von Sellafield bis um das Zehnfache erhöhte Leukämierate sei nichts anderes als ein weiteres Risiko in der langen Liste der allgemeinen Gefahren für Kinder, so Kelly. „Wir wissen nicht, wodurch Leukämie verursacht wird.“
Rotation gegen erhöhte Strahlenbelastung
Die Firmenleitung berät dennoch zur Zeit mit den Gewerkschaften über Maßnahmen, durch die das Risiko für potentielle Väter verringert werden kann. Kelly sieht zwei Möglichkeiten: „Wir können das Rotationsprinzip einführen, so daß niemand länger als vier Stunden der erhöhten Strahlung ausgesetzt ist. Oder wir können in den heißen Bereichen nur ältere Männer einsetzen, die schon Kinder haben.“ Bill Robinson, der Sprecher der Gewerkschaft AEU, pflichtet Kelly in allen Punkten bei. Er gibt zwar zu, daß die Arbeiter verunsichert sind, doch Grund zur Panik gebe es nicht. Robinson bedauert, daß ausgerechnet der firmeneigene Mediziner Roger Berry zur negativen Propaganda für die Anlage beigetragen habe. Berry hatte gesagt, daß den Arbeitern „möglicherweise davon abzuraten ist, Kinder zu zeugen“.
Barrow-in-Furniss liegt etwa 40 Kilometer südlich von Sellafield. Von hier werden die abgebrannten Brennstäbe per Bahn zur Wiederaufbereitung nach Sellafield transportiert. In einer kleinen Seitenstraße vom Ortskern Barrows hat die Bürgerinitiative CORE (Cumbria gegen eine radioaktive Umwelt) ihr Büro in einem baufälligen Reihenhaus. CORE kämpft seit zehn Jahren für die Schließung der Wiederaufbereitungsanlage. Simon Boxer ist eines der Gründungsmitglieder. Er sagt: „Die Gewerkschaft ist in vielen Fällen genauso schlimm wie die Firmenleitung. Sie diskreditieren sich jedoch selbst, wenn sie weiterhin behaupten, Sellafield habe keine Auswirkungen auf die Bevölkerung in West-Cumbria. Der Gardner-Bericht hat eindeutig die BNFL-Theorie widerlegt, daß Leukämie durch einen von außen eingeschleppten Virus verursacht wird. Für Leute wie Jake Kelly war der Gardner-Bericht natürlich eine Überraschung, weil sie inzwischen ihrer eigenen Propaganda glauben.“
Mythos Arbeitsplätze
Boxer glaubt, daß der Bericht auch indirekte Folgen für die Arbeiter in Sellafield haben wird: „Wer will schon einen Arbeiter heiraten, bei dem die Gefahr besteht, daß seine Kinder Leukämie bekommen können“, sagt Boxer. Er bezeichnet es als Mythos, daß die Atomanlage Arbeitsplätze sichere: „Das Gegenteil ist der Fall. Bis 1982 war Cumbria als Entwicklungsgebiet eingestuft. Unternehmen konnten Subventionen beantragen, wenn sie sich hier niederlassen wollten. Doch BNFL schluckte 98 Prozent der Subventionen, so daß die Regierung schließlich ganz Cumbria die Unterstützung entzog. Heute siedelt sich hier kein Unternehmen mehr an.“ Außerdem habe Sellafield die Tourismus-Industrie ruiniert. „Früher war Seascale ein Kurort. Seit bekanntgeworden ist, daß die Leukämierate das Zehnfache des Landesdurchschnitts beträgt, kommt kein Mensch mehr her“, so Boxer.
Im „Wheatsheaf“, einer Kneipe mit Pension in Egremont, ist noch ein Zimmer frei, das ich mir mit einem Sellafield -Arbeiter teile. George hat keine Angst: „Das ist doch alles übertrieben“, sagt er. „Außerdem gibt sich die Firmenleitung alle Mühe, die Strahlendosis weiter zu reduzieren.“ Am Abend findet in der Kneipe ein Domino-Turnier statt, Mannschaften aus verschiedenen Abteilungen der Atomanlage nehmen daran teil. In den Spielpausen machen sich die Arbeiter über die Pressereaktionen auf den Gardner-Bericht lustig. George erzählt: „Einem Reporter vom 'Daily Star‘ haben wir gesagt, daß uns die Firmenleitung bleierne Unterhosen zugeteilt habe. Er hat das tatsächlich geglaubt.“ Die Wirtin sagt, daß hier in der Gegend niemand über Sellafield beunruhigt sei. „Das sind alles Leute von außerhalb, die für Unruhe sorgen.“ Sie empfiehlt mir, mich im Besucherzentrum über die Sicherheitsmaßnahmen in der Atomanlage zu informieren.
Dort hat sich die Mädchenklasse um ein Reaktormodell geschart. Mit zwei Hebeln kann die Geschwindigkeit der Atomspaltung gesteuert werden. Je mehr Strom erzeugt wird, desto heller leuchtet die an das Modell angeschlossene Stadt auf. Doch Vorsicht ist geboten: Bei 600 Megawatt gerät der Reaktor außer Kontrolle. Rote Warnlampen leuchten auf. Eine Angestellte erklärt den Mädchen lachend: „Jetzt habt ihr einen kleinen Super-Gau angerichtet.“
Ralf Sotscheck
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