: Wenn der Moloch Atem holt
■ Momentaufnahmen vom Bahnhof Friedrichstraße
Bahnhof Friedrichstraße, der Bauch von Berlin, liegt mitten in der Stadt und quillt über. Wenn der Moloch Atem holt, saugt er Tausende von Menschen ein, drückt sie durch sein schmutzstarrendes Innere, und speit sie bald darauf wieder aus. Auf der einen Seite in die abgasverpestete Friedrichstraße im Osten oder hinauf zur S-Bahnstation, auf der anderen ins Labyrinth des Westberliner Nah- und Fernverkehrssystems.
Der graue Monolith verströmt einen scharfen Geruch. Dieser verstärkt sich um ein Vielfaches, je weiter man durch staubige, zigarettenkippengesäumte Gänge ins Innere vordringt. Schwach fällt fahlgelbes Licht auf dreckverkrustete Wände und in die Gesichter der Leute, die den Bauch bevölkern.
Vielen steht blanke Ahnungslosigkeit in den Augen. Köpfe rucken nach allen Seiten, um irgendwelche Richtungshinweise ins Blickfeld zu kriegen, und die langgestreckten Hälse lassen die Kinnladen herunterklappen: Das ganze Gesicht wird damit zum Fragezeichen.
Ganze Familienclans hasten offenbar zielstrebig in eine bestimmte Richtung, stellen alsbald fest, daß es die falsche war und ändern urplötzlich die Marschrichtung.
Der flanellbehoste Vater, zum Beispiel, der noch soeben seine dreiköpfige Familie die große Treppe vom Fernbahnsteig A hinunterführte, bleibt abrupt stehen und läßt seine Frau auflaufen. Schwere Koffer in beiden Händen, schwenkt er den Kopf nach links, nach rechts, nach oben, und fragt dann in rheinischem Singsang, wo's denn wohl hier zur S-Bahn ginge. Er spricht eigentlich ins Leere, aber seine Tochter antwortet ihm im gleichen Tonfall, ob er denn blind wäre und daß er das Hinweisschild ja gleich vor der Nase hätte. Daraufhin setzt sich die kleine Prozession wieder in Bewegung.
Andere sehen sich gar nicht erst um, sondern fragen lieber gleich. Manche machen das systematisch und steuern zu diesem Zweck zielgerichtet die uniformierten Mitarbeiter der Transportpolizei an. Hauptwachtmeister Thumm, der im U -Bahnbereich auf- und abparadiert, klagt, daß er oftmals gar nicht zu seinen eigentlichen Aufgaben käme: „Alle naselang fragt einer, wo's langgeht. Irgendwo kann man's aber auch verstehen, denn die Hinweistafeln reichen einfach nicht aus.“
Leute, die einfach nur mal stehengeblieben sind, oft um sich selbst erstmal zu orientieren, werden unweigerlich zur Auskunftei für Ortsunkundige. Dem Tonfall nach rekrutieren sich die meisten davon aus Ostbesuchern, besonders in den S und U-Bahnschächten.
Den Penner, der seit einer halben Stunde mitten auf dem Bahnsteig an derselben Stelle steht, sich an einer Schnapsflasche festhält und schwankt wie ein Rohr im Winde, ficht das alles wenig an. Ihn fragt aber auch keiner. Die Oma, die plastikbetütet schon zum zweitenmal an der spindeldürren Gestalt vorbeitippelt, macht einen großen Bogen und wendet sogar das Gesicht ab.
Lange Zeit hindurch bildeten solche Omas das Gros derjenigen, die dem Grenzübergang zustrebten. Heute sind sie in der Minderheit, verschwinden im Gewoge der Pendler zwischen den Stadtteilen und den Großeinkäufern aller Altersgruppen. Schwere Lasten auf den Schultern balancierend - meist sind es elektronische Geräte, aber man sieht auch schon mal die eine oder andere Teppichrolle - schieben sie sich den Abfertigungsschaltern entgegen.
Mitten im Gewühl sitzt ein junges japanisches Paar auf seinen Koffern. Sie haben die Köpfe zusammengesteckt und studieren eine Landkarte, offenbar erfolglos, denn das Mädchen steht jetzt auf und spricht den vorbeischlendernden Hauptwachtmeister Thumm an. Er spricht deutsch und sie japanisch, und beide reden sie mit den Händen. Dennoch hat die Verständigung geklappt, denn die jungen Leute falten jetzt ihre Karte zusammen und wuchten ihre Koffer in Richtung Grenzübergang.
Das Gedränge lichtet sich für einen Moment: Der Moloch atmet aus. Der Bahnsteig leert sich. Nur der einsame Penner steht noch am selben Fleck und starrt glasigen Auges ins Nichts.
Heidi Harmat
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