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Späte Rehabilitation für Carl von Ossietzky?

Nach mehr als einem halben Jahrhundert beantragt die Tochter des ehemaligen 'Weltbühnen'-Herausgebers Carl von Ossietzky die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen „militärischem Geheimnisverrats“ / Begründung: Im damaligen 'Weltbühnen'-Prozeß wurde mit falschen Gutachten operiert  ■  Von Plutionia Plarre

„Unser fernes, zunächst nur vage durch Zukunftsnebel schimmerndes Ziel hieß: Wiederaufnahme!“ Ahnte der Redakteur Carl von Ossietzky bereits, daß er die Wiederaufnahme seines Verfahrens nicht mehr erleben würde, als er diese Zeilen über seinen Prozeß für die 'Weltbühne‘ niederschrieb? Zeitgleich mit dem Erscheinen des Artikels verschwand der vom obersten Gericht der Weimarer Republik am 23. November 1931 wegen „militärischen Geheimnisverrats“ zu eineinhalb Jahren Haft verurteilte Herausgeber der 'Weltbühne‘ in Berlin hinter Gittern. Er konnte das Gefängnis nach 225 Tagen vorzeitig verlassen, um kurze Zeit später von den neuen Machthabern ins KZ gesteckt zu werden. Der Herausgeber der 'Weltbühne‘ und Friedensnobelpreisträger verließ das KZ im Alter von 46 Jahren als todkranker Mann, der nur noch bis zum Mai 1938 leben sollte.

Nach einem halben Jahrhundert beginnen sich die Zukunftsnebel jetzt zum ersten Mal zu lichten: Gestern hat Ossietzkys Tochter, Rosalinda von Ossietzky-Palm, zusammen mit zwei Verfahrensbevollmächtigten, beim Berliner Kammergericht einen Antrag auf Wiederaufnahme des 'Weltbühnen'-Prozesses beantragt, der gegen Ossietzky und den Autor Walter Kreiser vom 4. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig durchgeführt worden war. Der militärische Geheimnisverrat war in den Augen des Gerichts, daß in der 'Weltbühne‘ ein Artikel Kreisers mit dem Titel Windiges aus der deutschen Luftfahrt, veröffentlicht worden war, der von der geheimen Aufrüstung der Reichswehr im Luftsektor handelte. Die Zuständigkeit des Kammergerichts ergibt sich daraus, daß die 'Weltbühne‘ ihren Sitz in Berlin -Charlottenburg hatte.

Der von den Rechtsanwälten Heinrich Hannover und Gerhard Jungfer ausgetüftelte Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist das Ergebnis einer mühevollen Materialsuche des Berliner Richters Eckart Rottka und Bremer Historikers Ingo Müller. Die Materialsuche war deshalb so schwierig, weil der Prozeß gegen Ossietzky und Kreiser vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichts unter besonderer Geheimhaltungspflicht hinter verschlossenen Türen stattfand. Das Urteil wurde nie veröffentlicht, die Akten sind in der Nachkriegszeit verschollen. Bei ihren Recherchen fanden Rottka und Müller heraus, daß das Reichsgericht nur den letzten Absatz von Kreisers Artikel für strafbar gehalten hatte, in dem es darum ging, daß die geheime Abteilung der Reichswehr in Johannesthal Flugzeuge unterhält. „Das“, so Rottka gegenüber der taz, „war kein Geheimnisverrat, sondern schon bekannt. In dem Artikel wurden nur allgemein zugängliche Informationen über die geheime Luftfahrt verwendet“, so Rottka weiter. „Es war ein etatkritischer Artikel, der fragte: 'Warum werden hier Steuergelder für derartige, nicht erlaubte Dinge verwendet?'“

Bundeswehrgutachter erstattet neues Gutachten

Dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens haben die Anwälte das Gutachten des militärgeschichtlich-historischen Sachverständigen der Universität der Bundeswehr in Hamburg, Wolfgang Gessenharter, beigelegt. Gessenharter verweist darauf, daß der 4. Strafsenat des Reichsgerichts seinem Urteil gegen Ossietzky und Kreiser die Gutachten des Reichswehr- und Reichsverkehrsministeriums sowie des Auswärtigen Amtes „zugrunde gelegt“ hatte. Gessenharter kommt zu dem Schluß, daß die „recht oberflächlichen, fast formelhaft“ erstellten Gutachten - eines stammte von einem Major Himer, der später einer der Organisatoren der schwarzen Reichswehr war - aus heutiger Sicht falsch seien. Aus Archiven, Memoiren - Literatur und von Zeitzeugen ist inzwischen bekannt, daß die in dem Artikel Windiges aus der deutschen Luftfahrt beschriebene Tatsache, daß das Deutsche Reich unter Verletzung des Versailler Friedensvertrags geheime Rüstung betrieb, „weitgehend“ bekannt war. „Der historische Rückblick“, so Gessenharter weiter, „erlaubt zudem die Bewertung, daß die geheimen Rüstungen in hohem Maße die Sicherheit des Deutschen Reiches gefährdeten und nicht die Tatsache, daß dies in dem 'Weltbühnen'-Artikel angesprochen wurde. Es war schließlich diese, nach 1933 noch forcierte Rüstung, die zum Zweiten Weltkrieg, der vernichtenden Niederlage des Deutschen Reiches und der Zerstückelung desselben führten.“ Gessenharters Fazit: Nicht etwa der von Ossietzky veröffentlichte Artikel, sondern die vertragswidrige Aufrüstung sei den Sicherheitsinteressen des Deutschen Reiches zuwidergelaufen.

Wenn das Kammergericht nach der Prüfung des Gesuchs auf Wiederaufnahme des Verfahrens zum dem gleichen Schluß kommt wie die Antragsteller und der Gutachter der Bundeswehr, muß der 'Weltbühnen'-Prozeß noch einmal aufgerollt werden. Eine erneute Hauptverhandlung wird es allerdings nicht mehr geben, sondern nur einen schriftlichen Beschluß, weil der frühere Angeklagte Ossietzky tot ist. Die Entscheidung des 1. Strafsenats des Kammergerichts, der sich mit der Prüfung des Falls unbegrenzt Zeit lassen kann, darf auf jeden Fall mit Spannung erwartet werden. Er genießt nicht den Ruf besonderer Progressivität. Der stellvertretende Vorsitzende Egbert Weiß - er hatte am Freispruch für den Richter am Volksgerichtshof, Rehse, mitgewirkt - machte in Berlin erst unlängst von sich reden, weil er eine provisorische Gedenktafel für die Opfer des Reichskriegsgerichts zertrümmern ließ.

Hitler durfte stundenlang reden

Der Wiederaufnahmeantrag wurde gestern auf einer Pressekonferenz von den Rechercheuren und Anwälten im Beisein von Rosalinda von Ossietzky-Palm und der Liga für Menschenrechte vorgestellt. Zur Sprache kamen dabei auch Details über den 4. Strafsenat des Reichsgerichts, der unter dem Vorsitz des Reichsgerichtsrats Baumengarten viele liberale Publizisten verurteilt und in Rüstungs- und Wehrmachtsangelegenheiten schon frühzeitig mit den Nazis kollaboriert hatte. So hatte Baumgarten Adolf Hitler in einem Hochverratsprozeß gegen Reichswehroffiziere stundenlang als Zeuge reden lassen. In der Rede hatte Hitler ankündigt: „Wenn wir die Macht ergreifen, werden Köpfe rollen.“

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