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Wer nicht ohne fremde Hilfe essen kann, verhungert

■ Unter Ceausescu wurden alte Leute, Landstreicher, ausgesetzte Kinder und von der Folter gebrochene politische Häftlinge in sogenannten „Pflegeheimen“ eingesperrt / Es gibt mindestens zehn solcher Anstalten / Zuständig für ihre Verwaltung: das rumänische Arbeitsministerium / Von Uwe Baringhorst

Zimmer 110, zweiter Stock. Die von Feuchtigkeit verzogene Tür läßt sich nur schwer aufdrücken. Ein beißender Geruch von Urin und Formalin strömt uns entgegen. Apathisch drehen sich kleine Kinderköpfe zur Eingangstür. Einige Kinder, die noch die Kraft haben, aufrecht zu sitzen, beginnen rhythmisch mit dem Kopf gegen die hohen Gitterstäbe ihrer Betten zu schlagen. Abgemagerte Kinderarme strecken sich uns entgegen. Jede Berührung wird gierig aufgenommen. Die Betten sind von Urin durchtränkt. Durch die vor Dreck starrende Gardine fällt fahles Licht. Der einziger Farbfleck: eine rote Gummipuppe im Bett eines Jungen. Um auf sich aufmerksam zu machen, wirft er die Puppe über das Gitter. Seine Haare sind verfilzt, die Kopfhaut übersät mit Geschwüren. Er ist acht Jahre alt. Mit drei Jahren hat man ihn in das „Pflegeheim“ von Platarescht gebracht. Seither hat er diesen Raum nie wieder verlassen.

Das organisierte Elend

Zwei Monate, nachdem die Rumänen sich ihres Despoten entledigt haben und der Pulverdampf der Revolution sich langsam legt, wird allmählich das ganze Ausmaß des organisierten Elends sichtbar: Seine unterste Stufe heißt „Platarescht“. Platarescht ist ein Dorf, etwa 30 Kilometer von Bukarest entfernt. Am Dorfrand, abgeschottet von der Außenwelt, liegt eine Einrichtung gleichen Namens: ein sogenanntes „Pflegeheim“ für psychisch kranke Kinder und Erwachsene.

Betreut werden die 440 Betroffenen von drei Ärztinnen und zehn Frauen aus dem Dorf. Platarescht ist Symbol der Unmenschlichkeit eines Regimes, das angetreten war, den „sozialistischen Menschen“ zu schaffen. In Heime wie Platarescht wurden alle abgeschoben, die diesem Bild nicht entsprachen: körperlich und geistig behinderte Kinder, entmündigte Alte, Vagabunden - und von der Folter gebrochene Regimekritiker.

Für 220 zum Teil schwer behinderte Kinder stehen dem Heim nur 180 Betten zur Verfügung. In vielen Betten liegen zwei, manchmal auch drei Kinder. Die Zimmer sind unbeheizt.

Selbst in der Abteilung für die Erwachsenen finden wir, am Fußende eines Bettes zusammengekauert, ein körperbehindertes, blindes Kind. „Im letzten Jahr sind über 50 Kinder in unserem Heim gestorben“, sagt die Kinderärztin Hariklär Popesku, „aber was sollten wir machen? Einfach gehen?“

Auf der Kinderstation ist ein grausames Zweiklassensystem entstanden: Ein Kind hat nur dann eine reelle Überlebenschance, wenn es lernt, ohne freme Hilfe zu essen, denn zum Füttern ist kaum Zeit. Besonders die ans Bett gefesselten Kinder sind extrem vernachlässigt und unterernährt.

Soweit bisher bekannt wurde, gibt es zehn Heime dieser Art in Rumänien; geschlossene Psychiatrien, aus denen keine Informatinen nach außen gelangen konnten. „Hätte ich in der Öffentlichkeit auch nur ein Wort darüber verloren, ich wäre sofort als Konterrevolutionärin im Gefängnis gelandet“, sagt die Direktorin Dr. Iona Melinte, die seit acht Jahren in Platarescht arbeitet.

Bevölkerungspolitik

per Dekret

Nachdem das rumänische Fernsehen über die Zustände in den Kinderheimen des Landes berichtet hatte und die Forderung nach Bestrafung der Direktoren laut wurde, trat Dr. Melinte die Flucht nach vorne an. Sie informierte das in Bukarest nach der Revolution gebildete Komitee zur Versorgung von Krankenhäusern und Kinderheimen. „Wie hätte ich mit unseren Mitteln die Patienten ausreichend versorgen sollen“, rechtfertigt sie die katastrophalen Zustände in ihrem Haus. Für Essen standen ihr 15 Lei (etwa eine DM), für Medikamente zwei Lei pro Kopf und Tag zur Verfügung. Oberste Aufsichtsbehörde für das Heim war das Arbeitsministerium. Das Ministerium für Gesundheit fühlte sich für die Endstation Platarescht nicht mehr zuständig.

60.000 Waisenkinder gibt es heute in Rumänien, ausgesetzte Kinder, die in Parks oder in Wartesälen gefunden wurden. Per Dekret hatte Ceausescu die Gesetze der Planwirtschaft auch auf die Bevölkerungspolitik übertragen wollen. Seit 1967 hatte jede Frau in Rumänien mindestens fünf Kinder zur Welt zu bringen.

Mit einem Schlag wurden alle Verhütungsmittel verboten und Schwangerschaftsabbrüche mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft. In vielen Betrieben wurden Frauen einer monatlichen gynäkologischen Untersuchung unterzogen. Die Kinder des geburtenstarken Jahrgangs von 1967 werden heute in Rumänien „Decretzei“, „Dekretkinder“, genannt.

In den folgenden Jahren ging die Geburtenrate wieder zurück, und es entwickelte sich der Untergrund der illegalen Abtreibung. Die Gehirnschäden und schweren Mißbildungen vieler Kinder im Pflegeheim von Platarescht sind auf mißlungene Schwangerschaftsabbrüche zurückzuführen. „Viele Frauen haben an sich herummanipuliert oder sind zu Engelmachern gegangen, und wenn sie mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden, ließ man sie so lange auf dem Tisch bluten, bis sie sagten, was sie gemacht haben“, erzählt die 22 Jahre alte Helena, die in Bukarest lebt.

Als sie vor zwei Jahren schwanger wurde, hatte sie eine Frau auf dem Land gefunden. „Sie hat es nur mit der Hand gemacht, bei dieser Methode bekommt man nicht so schnell eine Blutvergiftung, und außerdem war sie nicht so teuer“, erzählt die junge Rumänin. 2.000 Lei, ein ganzes Monatsgehalt, hatte sie für den Abbruch bezahlen müssen, ein Arzt hätte das Fünffache genommen.

Endstation Psychiatrie

In Platarescht spricht uns eine Frau in fließendem Französisch an. Sie heißt Tamara Marku und ist vor zehn Jahren in die Psychiatrie eingeliefert worden. Bis dahin hatte die jüdische Journalistin bei der rumänischen Presseagentur 'Ager Press‘ gearbeitet. Der Grund für ihre Einweisung, erzählt sie, sei ein regimekritischer Artikel gewesen, in dem sie eine humane, menschliche Gesellschaft gefordert hätte.

Unsere Nachforschungen bei 'Ager Press‘ ergaben, daß sie tatsächlich dort gearbeitet hat, aber an einen Ceausescu -feindlichen Artikel, daran will sich heute niemand mehr erinnern. Ob ihre Behauptungen der Wahrheit entsprechen, wird Tamara Marku allein nicht mehr beweisen können. Sie eine gebrochene Frau, mit 63 Jahren eine Greisin.

Von der Politik des Ceausescu-Regimes, seine Kritiker einzusperren, sie psychisch zu brechen und geistig für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, war auch Petre Mihai Bacanu betroffen. Seit dem Sturz des Diktators ist Mihai Bacanu Chefredakteur der größten rumänischen Tageszeitung 'Romania Libera‘.

Als er vor zwei Jahren den Versuch machte, eine Untergrundzeitung herauszubringen, wurde er verhaftet. Die letzten sechs Monate bis zu seiner Befreiung war er in dem berüchtigten Gefängnishospital von Gelava in Bukarest. Dauerverhöre bis zu 70 Stunden, festgekettet mit Händen und Füßen an einem Ring auf dem Boden, Versuche, das Gleichgewichtszentrum durch eine Hochgeschwindigkeitszentrifuge zu zerstören, das waren die Methoden, mit denen Mihai Bacanu psychisch vernichtet werden sollte. Wie menschliche Roboter seien viele der Gefangenen in Gelava durch die Flure gelaufen, aber die Elektroschockbehandlung sei ihm zum Glück erspart geblieben, erzählt uns der rumänische Journalist.

Gutachten aus dem

Hospital Nr. 9

Auch der nach internationalen Protesten freigelassene Dissident Radu Filipescu berichtet, daß man in Gelava versucht habe, ihn für geistig unzurechnungsfähig zu erklären. Die Untersuchung wurde von einem Arzt aus dem Hospital Nr. 9, der größten psychiatrischen Klinik in Rumänien durchgeführt. Die Psychiater dieses großen Bukarester Hospitals hatten die Gefangenen von Gelava auf ihren Geisteszustand hin zu untersuchen.

Das seien aber nur Routineuntersuchungen gewesen, so ein Arzt im Hospital Nr. 9, politischen Gefangenen habe man es außerdem freigestellt, sich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Seine Rechtfertigung: Als verrückt zu gelten, das hätte unter Ceausescu manchmal ja auch seine Vorteile gehabt.

Wie überall im Lande tut man sich auch im Hospital Nr. 9 mit der Übernahme von Verantwortung für die Schrecken der Vergangenheit äußerst schwer. Eine schonungslose Bestandsaufnahme, wie sie vor allem die Studenten fordern, ist zur Zeit in Rumänien nicht in Sicht. Im Augenblick scheint nur der Sachzwang zu regieren. Die Angst, daß die alten Kräfte sich wie auch immer, neu formieren könnten, nimmt vielen den Mut initiativ zu werden.

Die Macht des Gewohnten...

Die Rumänen waren gewohnt, auf Befehle und Weisungen zu warten, persönliche Initiative war nicht gefragt und oft auch gefährlich. Man lebte zurückgezogen und hielt sich mit Schachern und Korruption über Wasser. Vor dem Ruf nach dem starken Mann, den viele am liebsten in einer Paradeuniform sehen möchten, warnt nicht nur Chefredakteur Mihia Bakanu. „Ein Volk“, sagt der rumänische Journalist, „das sich von dem Übel nicht befreien kann, einen Herrn zu haben, wird sehr schnell wieder in die alten Strukturen zurückfallen und nicht in der Lage sein, eine tatsächliche Demokratie aufzubauen.“

...und die Flucht

in die Zukunft

Auch im Hospital Nr. 9 möchte man die „Goldene Epoche“ des „Vaters der Rumänen“ möglichst schnell ad acta legen und sich der Zukunft widmen. „Wir sind im Vergleich zum internationalen Standard etwa zehn bis 15 Jahre zurück“, sagt der neue Chefarzt des Hospitals, Dr. Aurel Romila, der einige Jahre wegen unerlaubter Auslandskontakte nicht praktizieren durfte. „Worauf wir jetzt angewiesen sind, ist internationale Hilfe, aber auch im eigenen Land müssen wir wieder ganz von vorn anfangen. Wenn sie jetzt jeden, der sich im alten Regime kompromittiert hat, vor die Tür setzen wollten, dann können die Zeitungsredaktionen, Krankenhäusern und Schulen eigentlich auch gleich schließen wegen Personalmangel.“

Auf wissenschaftlichen Nachwuchs wird Dr. Romila noch einige Jahre warten müssen. Psychisch Kranke und soziale Probleme sind in der Goldenen Epoche des rumänischen Sozialismus per Dekret abgeschafft worden. Die Fakultäten für Psychiatrie und für Soziologie des Landes wurden 1978 mit der Begründung geschlossen, daß es für diese Fächer in Rumänien keinen Bedarf mehr gebe.

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