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Die Liebe in der Tinte

■ Uraufführung in Kassel: Hans Magnus Enzensbergers „Requiem für eine romantische Frau“

Elke Schmitter

Der Tempel der Liebe ist weiß und im Sturz begriffen. Ein Spiegel, auf dem Boden liegend, fängt die sinkende Bewegung auf und weist mit der gleichen Achse auf ein rotes Lager, zu Nacht und Analyse ladend (mit Mustern auf Teppich bedeckt wie weiland der Diwan in Wien, auf dem die romantische Liebe den Sprachtod erleiden sollte). Der weiße Tempel, das rote Bett, der schwarze Flügel am Rand: alles ist in intensives Blau gesetzt, nicht nur Nacht und Hoffnung und Liebestreu, sondern vor allem: Tinte. Von nun an wird über die Liebe geschrieben werden mit höchstem Verbrauch an Briefpapier und Spiegelbild. Wir sind unter die Dichter geraten.

Clemens von Brentano macht den Anfang. Er ist von der Himmelsmacht überfallen worden, unvermutet und, nach eigenen Angaben, wehrlos. Er zitiert sich selbst, die ersten Sätze seines Briefes an Achim von Arnim, mit denen der Sturz begann: „Es ist um des Teufels zu werden. Ohne es selbst zu wollen, wider den Willen der ganzen Bethmännischen Familie, die mich verflucht, ohne daß ich es verdiene, nachdem ich das Mädchen fünfmal gesehen, die mit einem Adjutant des Königs von Holland sich ein Jahr vorher ebenso gewaltsam versprochen, daß sie die Bewilligung der Eltern durch einen Fußfall vor der Königin auf dem Riedhof bewirkt, in der ganzen Stadt bekannt als dessen Braut, äußerlich ganz still, sanft und sinnig, ja tiefsinnig erscheinend, entsetzlich verständig sprechend, entschlossen wie ein Mann, jungfräulich schüchtern wie eine Nonne, wirft sich mir Auguste Bußmann, Moritz (Bethmann) seine Niece, deren Mutter die jetzige Frau von Flavigny ist, mit erschrecklicher Gewalt, nach einigen poetischen Galanterien, die ich ihr, von allen Umständen ununterrichtet, gemacht, an den Hals.“

Wer ist dieses junge Ungestüm? Ein sechzehnjähriges Mädchen, Halbwaise und bei ihrem vermögenden Onkel in Frankfurt lebend, von einer Entschlossenheit und Ängstlichkeit wie eine, „die in den Tod geht“. Der junge Brentano, als Dichter schon bekannt, hat es ihr angetan: „Ich liebe eigentlich nicht, sondern ehre nur den Mut und entsetzlichen Charakter dieses Mädchens, der sich mit solcher Gewalt liebend zeigt.“ Doch zeigt die Inszenierung ihn als Verführer, der, während seine Freunde Napoleon bejubeln, die enthusiasmierte, dichtgedrängte Szene nutzt, die leicht Entflammbare in die Arme zu nehmen. Das Sichtbare entlarvt seinen Text, der ihm so bußfertig von den Lippen kommt und ihn zum Opfer einer Pubertären erklären soll. Und während seine Schwester Bettine, schon einundzwanzigjährig, aus dem Musentempelchen heraus von ihrer mädchenhaften, hysterischen Verwirrung berichtet, als der große Napoleon sie eines Blickes würdigt, ist die Halbwüchsige längst über die Anbetung eines Fremden hinaus: sie ist von einem Manne angefaßt worden und hat ihrem Begehr zwar noch nicht freien Lauf gegeben, aber es doch schon einmal auf den Weg geschickt. Und läuft ihm hinterher: Als sie bei ihrem Onkel um die Freiheit bettelt, ihrer Liebe nachzugehen, rafft sie das weiße Empirekleid hoch, daß man die Beine sieht.

Das junge Paar will und kann nicht warten; die beiden weigern sich, den Formen der Courtoise zu gehorchen, und fliehen bei Nacht und Blitz. In der Bühnenarena sucht man noch eifrig nach ihnen, als sie sich schon im Schutz des Tempels befinden, nur einen Moment lang eng aneinander geschmiegt: Die Einsamkeit des Paares mit sich selbst, die jede Liebe braucht, ist von Anfang an zerstückelt, belauscht, beobachtet und kommentiert.

Die beiden haben wohl das ihrige hinzugetan. Hans Magnus Enzensberger veröffentlichte die Geschichte dieser Liebe im vergangenen Winter als Herausgeber überlieferter Briefe: Die Selbstzeugnisse der Beteiligten genügten, um das Drama vor Augen entstehen zu lassen. In der Bühnenfassung, die er nun für das Staatstheater Kassel vorgenommen hat, bleibt er seinem Verfahren treu, fügt keinen Satz den alten hinzu. So sprechen die Personen den Text nach, den sie vor fast zwei Jahrhunderten geschrieben, sie spielen nicht, sondern zitieren sich selbst, voller Anteilnahme und im Gefühl der eigenen Wichtigkeit: die eifersüchtige Bettine, die ihren geliebten Bruder nicht verlieren will, der verklemmte Achim von Arnim, der, kopfschüttelnd in Wohlanständigkeit befangen, vor soviel Abenteuer warnt... Die Sätze greifen ineinander, während die Menschen lebende Bilder stellen: jedes erzählt seine Geschichte, und unter den vielen Geschichten muß diese eine, eigentliche untergehen.

Es wird geheiratet. Eine banale, kleine Zeremonie, in Eile hinter sich gebracht, besiegelt den Bund dieses Paares, dessen Kontur sich bisher nur in dramatischer Entäußerung gebildet und daraus seine Energie gezogen hat. Schon bei der Eheschließung fühlt sich der Dichter „von Trauer umflochten“, und schon bald, allein mit der Frau, folgt auf die ersten Räusche das Entsetzen auf dem Fuße: Worauf hat er sich da eingelassen, wozu hat sie ihn verführt? „Die ganze Handlung war so läppisch, so elend, die Kirche schien über mir einzustürzen... Nun bin ich verheiratet, die Familie Bethmann dringt in mich, einen Stand zu ergreifen...“

Augustes Familie ist brüskiert und ungeduldig; brüskiert ob der eigentlich unnötigen Flucht - „denn fliehen kann ich es nicht nennen“, schreibt Moritz Bethmann an sein „durch Ausartung abgestorbenes Mündel“: „Niemand verfolgte sie, es sei denn, sie habe ihrem Glük auf immer entfliehen wollen“ und ungeduldig, weil Clemens so gar keine Anstalten macht, einen richtigen Beruf zu ergreifen, seine Aussichten zu offenbaren.

Das Paar hat eine Wohnung in Kassel bezogen, wo es einen wohlwollenden Schwager gibt, der den Unverheirateten Obdach bot. Allein mit sich, zeigt es sich ganz und gar nicht imstande, dieses Alleinsein zu ertragen, schreibt nach den ersten Tagen bereits Briefe an die Freunde von Arnim, Brentano und schließlich Savigny. Während Clemens als der Gerechte im Zweikampf Beistand sucht und an sich keine Fehler findet, legt Auguste büßend ihr Herz zu seinen Füßen: „Hier ist mein ganzes Wesen: ich will nur Clemens Glück, aber meine unglückliche Liebe zu ihm quält ihn oft, und so muß ich ihn mit eben der Gewalt von mir entfernen, mit der ich ihn an mich zog.“ Das ist der Text schon nach drei Wochen.

Wo wir nur spekulieren können, was den Kampf zwischen diesen Menschen bestimmt, sind die Freunde sich offenbar einig. Von Clemens in unaufhörlicher Folge mit Berichten über Augustes Teufeleien versorgt, von ihr durch Demutsbezeugungen im Glauben darin bestätigt, ist ihr Urteil bald gesprochen: „Er (Moritz Bethmann)“, schreibt Friedrich Karl von Savigny an Clemens Brentano, „glaubt, daß Auguste einen Herrn brauche, der ihr kalt und fest befehlen und sie unter seinen Willen beugen könne. Ich glaube, daß er recht hat.“ Und Bettine bereitet schon das Ende vor: „Mit Clemens ist es sehr traurig; ich meine, es sei ganz in Ordnung, wenn man ihm endlich den Strick vom Halse los machte, aber wie?“ Doch freilich, so schnell geht es nicht. Der „stete Wechsel zwischen Versöhnung und Rückfall“ wird die Liebenden noch einige Zeit in Atem halten.

Auguste Bußmann muß sich sehr allein gefühlt haben. Ihre Briefpartner sind seine Freunde, ihr Mann ist ihr Richter geworden. Ihre Familie hat sich von ihr abgewandt und fügt den Ermahnungen an den Ehemann, sich den Respekt seines Weibes durch Konsequenz (also: Unnachgiebigkeit) zu erringen, den drohenden Satz hinzu: „Auguste wird bei mir und meiner Familie nie Schutz finden, so lange sie nicht durch ein anständiges, bescheidenes, und unterwürfiges Benehmen gegen Ihren Gatten sich deßen werth zu machen weis...“ (Moritz Bethmann an Clemens Brentano, am 15.März 1808). Im blauen Bühnenbild von Bernd Holzapfel sind längsseitig Stühle aufgestellt: hier nimmt die kommentierende Gesellschaft Platz, verfolgt die Liebeskämpfe mit parteilichem Interesse. Die einzige Liebesszene des Abends, bei der die Arme Flügel werden wollen und die Blicke ineinanderschmelzen - gehört Bettine und Clemens, die in zärtlicher Vertrautheit auf dem Diwan Königskinder spielen. Auguste und Clemens bleibt nur ein ungestümer Tanz; der auf seine Ehre bedachte Dichter hat seine Kleine fortgerissen vom Franzosenball, wo sie wahllos kokettierte, faßt die Angetraute um die Mitte und wirbelt sie durch die Luft, daß beiden der Atem fortbleibt; so spürt man, ein paar Takte lang, was sie beieinander gesucht haben mögen.

Clemens will alles zugleich sein: Liebhaber und Freund, Onkel, Vater und Kamerad, Zuchtmeister und Arzt. Was ihn als Liebesenergie Augustes bezaubert hat, ihn atemlos in Besitz nahm, ist nun eine „an Blödsinn grenzende Entschlossenheit“. Was ihm den Mut gegeben hat, das Mädchen zu verführen, stößt ihn an seiner Gattin ab: Man applaudiert dem Dichter, als der sich weinerlich beklagt, daß jene Frau, der er die libidinösen Grundkenntnisse wohl vermitteln konnte, trotz seiner Abmahnung erotische Romane liest, die er als obszön gebrandmarkt... Die edle Stirn in die Handschale gestützt, schreibt er verzweifelte Gedichte... Er wirft ihr das laute Singen zur Gitarre vor, derweil er die Mondscheinsonate auf dem Flügel abseift. Sie leidet nicht, wie sie leiden sollte, sie macht ihm lästige Szenen, bringt sich mit dem Federmesser Stiche bei, trinkt Alkohol und hält sich künstlich wach...

Der Amoklauf zeigt die falsche Wirkung. Schon ein halbes Jahr nach der Hochzeit sind die Phantasien der Männer juristischer Art. „Clemens sollte sein Recht gebrauchen“, empfiehlt der berühmte Rechtsgelehrte von Savigny, „und sie mit Gewalt in ein Kloster bringen, um sie vorläufig zu verwahren... Entlaufe sie dann, so wollen sie sie gefangennehmen und einsperren...“ Da stehen drei Raben der Jurisprudenz (Karl Jordis, v. Savigny und Joseph von Görres) und schlagen mit den Röcken und kratzen sich räsonierend am Kinn: Was tun mit diesem Weibe, das schlicht nicht zu bändigen und auch noch so tückisch ist, öffentlich Zerknirschung und Demut zu demonstrieren, um im Schlafzimmer den Teufelsfuß zu entblößen?

Es ist seltsam anzusehen, wie inmitten einer Gesellschaft, die sich brieflich das Herz ausschüttet und die feinsten Regungen aufmerksam analysiert, eine Frau daran zugrunde geht, daß sie die falsche Sprache spricht. Obwohl auch sie über die Rhetorik der Liebe verfügt, wie ihre Briefe beweisen, ist es ihr doch nicht möglich, sich so zu sublimieren, wie es sich gehört. Mit einer angeekelten Geste, die erst mit Feud interpretiert und erst nach Freud als chauvinistisch kritisiert werden wird, schickt Clemens seine Frau in Gedanken ins Irrenhaus: „Sie ist meine Epilepsie.“ Die Wahrheit, die er damit ausspricht, überhört er geflissentlich.

Die Ehe wird geschieden. Clemens willigt ein, obwohl der juristische Modus ihn zum Schuldigen erklärt, der seine Frau „böswillig verlassen“ habe. Die Geschichte, die von Anfang an keine intime war, findet nun deren allerkläglichsten und öffentlichsten Abschluß. Auguste, die selbst das Terrain der Auseinandersetzungen unaufhörlich erweitert hat (bis zu einem Vergiftungsversuch im Wirtshaus), hat nun recht bekommen von der Instanz, an der ihr wohl am wenigsten lag. Die vollständige Überlagerung der privatesten Bekenntnisse durch das Latein des bürgerlichen Rechts ermöglicht ihr sogar eine zweite Ehe. Daß sie diese eingehen wird, um den Makel der Scheidung zu überdecken, dafür wird die Familie schon sorgen - ein Jahr später ist es soweit; Moritz Bethmann vermählt sie (nach einem libertären Gastspiel, das Auguste zum Ärger der Familie in Paris gegeben hat) mit einem Bankier, der ihm geeignet erscheint, einmal die Familiengeschäfte zu übernehmen.

Die Eignung der Eheleute füreinander hingegen reichte wohl nicht aus. Siebzehn Jahre nach der zweiten Heirat ertränkt sich Auguste Ehrmann, Mutter von vier Kindern, wohnhaft in Frankfurt, im Main.

Daß aus dieser Geschichte ein Theaterstück werden konnte, ist kaum glaubhaft, aber wahr. Das Wichtigste ist wohl, daß Regisseur Manfred Beilharz und seine begabten und lebendigen Schauspieler sich nicht zuviel vorgenommen haben: im Rahmen einer szenischen Lesung eher als eines Schauspiels, in großem - und berechtigtem - Vertrauen in den Text gelingt es ihnen vollständig.

Eine Entscheidung allerdings treffen sie über den Text hinaus: sie denunzieren Clemens von der ersten Szene an. Der eigentümliche Reiz des Buches liegt darin, daß er unsere Vorstellungskraft okkupiert: Was mag die beiden zueinander gestoßen haben, was hat sie aneinander gequält? Die Briefe legen die Vermutung nahe, daß Clemens zum Liebeskampfe besser gerüstet war, älter, erfahrener, mit Freunden an seiner Seite. Daß er an Auguste gefürchtet hat, sie möchte ins Irdische übersetzen, was ihm Stoff für die Lyrik bleiben sollte. Daß er der eigentliche Egoist war, unrettbar verloren in seinen Wünschen und Gesichten, feige und kleinlich, wo er kühn und großzügig hätte sein müssen. Und daß Auguste mit all ihren Mitteln um seine Liebe gekämpft haben mag, pubertierend, heftig und lästig, aber eigentlich hilflos und ihm unterlegen in dem trotzigen und trostlos naiven Bedürfnis, Gedichte in Wirklichkeit zu überführen. Das Buch legt diese Überlegungen nahe - aber es vernichtet Clemens nicht.

Hans Magnus Enzensberger charakterisiert die Romantiker in seinem Nachwort zum Requiem als eine Gruppe, welche „die Liebe erfunden“ habe - in unseren noch immer überanstrengten, metaphysischen, alles wollenden Begriff davon. Selbst wenn man dem nicht uneingeschränkt zustimmt immerhin haben Bettine, Achim, Clemens, Caroline, und Auguste eine Generation nach der europäischen Werther -Manie geschwärmt, gelitten und endlose Briefe geschrieben -: Auguste Bußman war ein ausradierter Schatten im Genrebild der Romantik (wie der Bruder der Brontes auf ihrem Familienbild, wie Caroline von Günderode vor Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends). Diese Lücke ist nun nicht ausgemalt aber eindringlich bezeichnet.

Die nächsten Aufführungen: 23.3., 6.4., 12.4.

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