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Unter Gewaltanwendung ins Öko-Glück?

Verkehrte Welt in Leverkusen: Die Chemiestadt möchte eine Siedlung abreißen, weil sie auf dem Gelände einer ehemaligen Deponie liegt / Doch vor allem die älteren Bewohner wollen sich nicht mehr verpflanzen lassen / Im Vergleich mit der Umweltverschmutzung früher sei Leverkusen heute „geradezu ein Luftkurort“  ■  Von Thomas Gesterkamp

Seit über zwei Jahren spielen sich im Leverkusener Ortsteil Wiesdorf bisweilen gespenstische Szenen ab. Wachtposten patrouillieren durch die unmittelbar am Rhein gelegene Siedlung Dhünnaue. Die städtischen Aufpasser haben eine klare Aufgabe: Sie sollen verhindern, daß die rund 800 Menschen, die hier leben, die befestigten Wege zu ihren Häusern verlassen. „Betreten der Rasenflächen verboten“, steht auf Schildern zwischen den Wohnblocks. Spielplätze und Sandkästen sind eingezäunt oder verwaist, Kinder dürfen sich nicht mehr draußen vergnügen. Vom Verzehr des im eigenen Garten gezogenen Gemüses wird abgeraten. Denn Messungen auf dem 25 Hektar großen Gelände haben hohe Konzentrationen von Chrom, Quecksilber, Arsen und Benzol festgestellt; zudem enthält das Erdreich Dioxine und Furane.

Die Ursache der Giftfunde: Vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren hat der ortsansässige Chemiekonzern „Bayer“ die Dhünnaue als Mülldeponie genutzt - die Stadt Leverkusen duldete das wilde Kippen ihres größten Steuerzahlers. In der Nachkriegszeit, als Wohnungen fehlten, setzte die Kommune noch einen drauf. Auf dem, wie heute feststeht, größten Altlastengebiet der Bundesrepublik baute eine städtische Siedlungsgesellschaft 1953 das Wohngebiet an der Rheinallee.

Verseucht waren auch

Möbel und Teppiche

Spätestens Mitte der siebziger Jahre hätten die Behörden mißtrauisch werden können. Beim Bau einer neuen Autobahn in unmittelbarer Nähe mußte sich der zuständige Landschaftsverband Rheinland durch Berge chemischer Abfälle wühlen. Eine entsprechende Mitteilung aber schien die Gemeinde nicht zu beunruhigen. Im Gegenteil: Sie stellte gar einen neuen Bebauungsplan auf, dem zufolge weitere Wohnungen in der Dhünnaue entstehen sollten. Erst eine „Umweltverträglichkeitsprüfung“ brachte die Gefahren an den Tag - und die Pläne zu Fall. Als die ersten Meßwerte bekannt wurden, schlug Umweltdezernent Hannes Anna Alarm. Der parteilose Experte, von den Grünen im Leverkusener Rat auf seinen Posten gehievt, gab Nachfolgeuntersuchungen in Auftrag, die noch Schlimmeres ergaben: Nicht nur das Erdreich rund um die Häuser, sondern auch das Mobiliar der Wohnungen ist verseucht. Jahrzehntelang haben die Mieter, vor allem bei feuchtem Wetter, giftigen Schmutz in ihre vier Wände getragen. Angesichts der festgestellten „Restkontaminationen“ in Teppichen oder Polstermöbeln entschied sich die Stadt, die Häuser abreißen zu lassen.

Der eilig eingerichtete Sonderstab „Altlast Dhünnaue“ begann, mit dem Hauptverursacher, dem Chemiekonzern Bayer, über die Kosten zu verhandeln. Das Ergebnis feierten im September 1989 beide Seiten als ein Beispiel geglückter Zusammenarbeit von Industrie und Umweltpolitik: An die Stelle der Siedlung soll bis 1995, nach der Entgiftung, ein „Rheinpark“ treten. Alle bisherigen Mieter bekommen Ersatzwohnungen, nur wenige Kilometer entfernt und zum gleichen Mietpreis. Die Kosten von über 50 Millionen Mark für Sanierung und Neubau, so verkündete Bayer stolz, zahle zu drei Vierteln der Chemieriese. Doch das vermeintliche Happy End hatte gleich mehrere Haken. So blieb die Verseuchung des Grundwassers durch die im Überschwemmungsgebiet des Rheins gelegene Deponie zunächst außen vor. Erst die Recherchen eines Fernsehteams des Westdeutschen Rundfunks brachten die Verantwortlichen erneut auf Trab. Kurz vor Weihnachten verkündete Bayer in einer eilig einberaumten Pressekonferenz, mit weiteren 150 Millionen Mark werde der Boden hermetisch abgedichtet und das Grundwasser gesichert. Unabhängige Experten allerdings schätzen die Kosten einer konsequenten Sanierung mittlerweile in Milliardenbeträgen.

Noch pikanter freilich ist ein anderer Punkt: Denn trotz aller Gefahrenmeldungen weigert sich die große Mehrheit der Bewohner, die Giftmüllsiedlung zu verlassen. „Die meisten hier sind alt, die leben von Anfang an hier, die wollen hier nicht wegziehen“, sagt der Rentner Paul Herkenrath. Der 67jährige spricht für viele: „Uns geschieht Unrecht damit, daß wir in unserem Alter noch verpflanzt werden. Es gibt ein Sprichwort, das sagt: Alte Bäume verpflanzt man nicht mehr, die gehen ein.“

„Versprochen haben die schon so viel...“

Paul Herkenrath und seine Nachbarn in der Rheinallee 66 verweisen auf ihre intakte Hausgemeinschaft: „Wir möchten gerne zusammenbleiben.“ Die Stadt hat zugesagt, gewachsene Bindungen nicht auseinanderzureißen. Aber Herkenrath mißtraut der Schaukelpolitik der Behörden: „Versprochen haben die uns schon so viel und nie was gehalten.“ Die Verwaltung möchte solche Befürchtungen zerstreuen. In Briefen und Veranstaltungen betont sie immer wieder, daß sie Wohnungen in unmittelbarer Nähe anbieten wird, daß sie auf die Wünsche der Mieter eingehen will.

Eigens eingestellte Sozialarbeiter sollen die psychischen Probleme lindern, die für die alten Menschen mit dem Umzug verbunden sind. Umweltdezernent Anna: „Wir wissen, daß es keinen Sinn haben kann, jemanden vor sechswertigem Chrom zu bewahren, ihn aber in eine neue Umgebung zu bringen und dort verkümmern zu lassen.“ Die Mieter halten die städtischen Untersuchungsergebnisse für übertrieben - schon deshalb, weil sie am eigenen Leib bisher keine unmittelbaren Gesundheitsschäden haben feststellen können. Viele der älteren Bewohner der Siedlung haben früher selbst beim benachbarten Chemiekonzern gearbeitet. Paul Herkenrath, der einst sogar Betriebsrat war, über seine Lehrjahre bei Bayer: „Mit den Chemikalien, die heute als krebserregend gelten, haben wir uns die Finger sauber gemacht. Da hat sich kein Mensch für interessiert!“ Leute wie Paul Herkenrath erinnern sich noch gut daran, wie ihr Stadtteil unter blauem Nebel lag, wenn das Werk Giftstoffe abließ. „Da mußte die Wäsche reingeholt werden, und anschließend mußten die Fenster geputzt werden.“ Im Vergleich dazu sei Leverkusen heute „geradezu ein Luftkurort“. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen können die früheren Industriearbeiter offenbar keine Umweltprobleme mehr erkennen. Selbst die Vorstelllung, daß 50 Zentimeter unter ihren Häusern und Grundstücken eine Mülldeponie zum Vorschein kommt, schreckt sie nur wenig. Umweltdezernent Anna beklagt die „mangelnde ökologische Sensiblität“. Nur bei den wenigen jüngeren Mietern zeigte seine Überzeugungsarbeit bisher Erfolg. Rund 30 der über 200 Wohnungen stehen mittlerweile leer - vor allem Familien mit Kindern ziehen schleunigst aus. Doch bei den Älteren versagt die staatliche Fürsorge, sie bleiben stur. Die wackeren städtischen Umweltschützer haben Angst, sich als Verwaltungsbeamte fahrlässig zu verhalten, wenn sie die Siedlung nicht räumen lassen. Eine unangenehme Vorstellung plagt sie neuerdings: Der Rentner Herkenrath wird gegen seinen Willen in eine grüne Minna geschleppt und sieht durch das Gitterfenster, wie der Abrißkran sich an seine Wohnung macht. Mit Polizeigewalt zum Öko-Glück, das wäre in der Tat ein Alptraum der Umweltbürokratie.

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