Berlins KiTas - seit acht Wochen dicht

■ Beim Streik der ErzieherInnen ist der rot-grüne Senat gespalten / Zusatztarifvertrag oder nicht?

8. März, Internationaler Frauentag; manche würden ihn gern zum „Kampftag“ erklären. Nun kämpfen sie endlich, aber wen interessiert's? In West-Berlin streiken seit acht Wochen die ErzieherInnen, neunzig Prozent von ihnen sind Frauen. Für die Gewerkschaften die letzte Chance, die Arbeitsbedingungen im Sozialbereich zu verbessern, bevor die deutsche Vereinigung ihren Tribut fordert.

Seit acht Wochen jeden Morgen die gleiche Prozedur: Rund 40.000 Westberliner Sprößlinge marschieren an der Hand gestreßter Mütter - und manchmal auch Väter - zur Großmutter, zur Tante, zur Nachbarin oder mit ins Büro. Betriebe haben auf dem Werksgelände eine Notversorgung eingerichtet; woanders übernehmen Eltern im Rotationsverfahren die Betreuung selbst. Und in ein paar tausend Haushalten fällt dieses Jahr der Urlaub flach, weil sich Mütter und Väter seit Wochen freinehmen, um auf ihre Kinder aufzupassen.

Nach zwei Monaten Streik wird die Haltung so mancher Passanten gegenüber den Streikposten aggressiver, die Stimmung auf den wöchentlichen Streikvollversammlungen gereizter - doch noch können die Gewerkschaften ÖTV und GEW jeden Dienstag einige tausend ErzieherInnen (sie kassieren pro Tag durchschnittlich 66 DM Streikgeld) und Eltern vor das Rathaus Schöneberg mobilisieren. Dann nämlich tagt hinter grauen Mauern der rot-grüne Senat und erklärt auf der anschließenden Pressekonferenz, was seit Wochen jeder weiß: daß man gar nicht daran denke, mit den Gewerkschaften Tarifverhandlungen zu führen und daß die 4.000 ErzieherInnen bitteschön wieder an die Arbeit gehen sollten. Die Gewerkschaften kontern jedesmal mit Protesten und der Ankündigung, der Streik werde uneingeschränkt weitergehen.

Dieses Ritual der Kontrahenten überschattet mittlerweile, worum es ursprünglich ging: die Arbeitsbedingungen von rund 4.500 ErzieherInnen, davon 90 Prozent Frauen, in den 396 städtischen Kindertagesstätten in Berlin; ein Zahlenverhältnis zwischen Kindern und BetreuerInnen (der sogenannte Personalschlüssel), das seit 1976 trotz Arbeitszeitverkürzungen gleich geblieben ist; als Folge davon überfüllte Gruppen. Bis zu 30 Kinder müssen von einer Erzieherin betreut werden - und es sind nicht die ausgeglichensten Kinder, die in den städtischen KiTas untergebracht werden; Besserverdienende bringen ihren Nachwuchs in den privaten Kinderläden unter, wo die Arbeitsbedingungen für das Personal zwar keineswegs ideal, aber doch deutlich besser sind.

Der Krankenstand unter den ErzieherInnen ist enorm hoch; Weiter-und Fortbildungsmaßnahmen finden in der Regel ohne die Frauen aus den städtischen KiTas statt, weil niemand in ihrer Abwesenheit ihre Gruppe betreuen könnte. Fünf Jahre dauert mittlerweile die Ausbildung, die sie mit der Aussicht auf einen Verschleißjob abschließen, in dem sich monatlich zwischen 1.400 und 2.400 DM verdienen lassen. Durchschnittlich fünf Jahre bleiben die ErzieherInnen zur Zeit in ihrem Beruf. Allein in Berlin warten über 30.000 Kinder, in Hamburg 10.000 Kinder auf einen KiTa-Platz, die dafür benötigten Fachkräfte sind jedoch nicht in Sicht. Seit Jahren sind die Ausbildungszahlen rückläufig - übrigens nicht nur in Berlin.

Hier fordern nun die ErzieherInnen einen Zusatztarifvertrag, der nicht nur Weiterbildung, die Angleichung an die Arbeitszeitverkürzung, sondern auch den Personalschlüssel festschreibt. Zumindest verbal unterstützt werden sie von der Alternativen Liste, zahlreichen Personalräten in der Stadt, dem Landeselternausschuß und mehreren SPD-Bezirken. Walter Mompers Senat hingegen lehnt gegen den Willen der drei AL-Senatorinnen Tarifverhandlungen jeder Art kategorisch ab. SPD-Abgeordnete und SPD-Senatoren, die urpünglich Sympathie für die Forderungen der Streikenden signalisiert hatten, wurden zurückgepfiffen.

Die Begründung: Ein tariflich festgelegter Personalschlüssel greife in das Budgetrecht und damit in die politische Gestaltungsmöglichkeit des Parlaments ein. Der Senat verweist zudem auf die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), den Zusammenschluß öffentlicher Arbeitgeber, die im Falle eines Erfolges der Berliner Ge-werkschaften „ein gefährlichesPräjudiz und für die anderenLänder ein schlechtes Beispiel„sieht.

Keine Frage - in den anderen Bundesländern beobachten ErzieherInnen und Gewerkschaften gespannt den Berliner Arbeitskampf. Mit Kommentaren in der Öffentlichkeit hält man sich aber lieber zurück. Daß ein Berliner Tarifvertrag Signalwirkung hätte, kann niemand ernsthaft bestreiten; eben das dient dem Senat als Gegenargument. Die Sache würde „sensibel beobachtet“, erklärt Rainer Hillgärtner, Pressesprecher in der Stuttgarter ÖTV-Zentrale. Vor dem Hintergrund der Berliner Auseinandersetzungen, so Hillgärtner, verzeichne die ÖTV deutlichen Mitgliederzulauf bei den ErzieherInnen.

Jahrelang hat es gedauert, bis sich die Frauen in diesem Frauenberuf organisiert hatten. Für die Meßlatte der Gewerkschafter galten sie bislang als „nicht arbeitskampffähig“, weil sie politisch unerfahren waren und der Druck der sozialen Verantwortung zu groß schien. Jetzt scheinen sie mit ihrem Streik alle Rekorde zu brechen - nur kollidieren sie seit dem 9. November mit einem Senat, der unumwunden erklärt, sich in ganz anderen Dimensionen zu bewegen: „Mit der Wiederherstellung der Einheit unserer Stadt werden wir bald ganz andere Sorgen haben“, hieß es in einer Zeitungsanzeige des Senatspresseamtes.

Nicht nur die Erzieherinnen, auch die Eltern spüren, daß ihnen zunehmend der deutsch-deutsche Wind ins Gesicht bläst. „Die wollen das aussitzen bis zu den Wahlen in der DDR“, so der Vorsitzende des Landeselternausschusses, „um dann alles mit dem Hinweis abzubügeln, im Osten sei es noch viel schlimmer.“

Eben deshalb ist man auf den Streikversammlungen überzeugt, daß dies die letzte Chance ist, Verbesserungen im KiTa -Bereich zu erreichen. Allerdings hat man an Druckmitteln kaum mehr etwas nachzulegen - das von vielen geäußerte Verständnis für die Forderungen der ErzieherInnen hat kaum in praktische Solidarität eingemündet. Der Konflikt wurde von Beginn an als Gewerkschafts-, nie aber als Frauenkampf wahrgenommen. Dazu mag beigetragen haben, daß selbst Frauensenatorin Anne Klein sich erst spät mit den Forderungen der Streikenden solidarisierte.

Und die Gewerkschaften stoßen auch an Grenzen, wie der ÖTV -Vorsitzende Lange einräumt: „Noch was nachzuschieben wird schwierig.“ Solidaritätsstreiks anderer Berufsgruppen, zum Beispiel der Müllmänner, die übrigens längst einen Zusatztarifvertrag haben, schließt Lange aus rechtlichen Gründen aus. Dienst nach Vorschrift zum Beispiel bei den Bus- und U-Bahn-Fahrern sei „zu schwierig“.

Bei allem absehbaren Schulterklopfen in der Senatskanzlei, falls der Streik erfolglos abgebrochen wird - selbst der Bürgermeister und seine SPD-SenatorInnen werden kaum glauben, daß 4.000 bis auf die Knochen frustrierte ErzieherInnen dann wieder an die Arbeit gehen, als wäre nichts gewesen. „50 Prozent werden den Kram hinschmeißen, der Krankenstand geht hoch“, prophezeit der Jugendstadtrat im Bezirk Neukölln. Zurück bliebe ein politischer Scherbenhaufen - und Aufbewahrungsanstalten für Kinder.

Andrea Böhm